Piwik Webtracking Image

GESCHICHTE : Aus der See geborene Mächte

Die Eroberung der Weltmeere hatte gravierende Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft

06.08.2018
2023-08-30T12:34:33.7200Z
9 Min

England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht tut." Es ist das berühmteste Flaggensignal der Weltgeschichte, das Admiral Horatio Nelson am 21. Oktober 1805 kurz vor Mittag am Besanmast seines Flaggschiffs "Victory" aufziehen lässt. Zwar stirbt Nelson viereinhalb Stunden später an den Folgen eines Musketenschusses, doch die an Schiffen überlegene französisch-spanische Flotte ist vernichtend geschlagen. Die Seeschlacht von Trafalgar vor der Südküste Spaniens bereitet nicht nur den Plänen Napoleons I. für eine Invasion Englands ein Ende und trägt entscheidend zu seiner Niederlage zehn Jahre später bei, sondern zementiert die weltweite Seeherrschaft Großbritanniens für ein ganzes Jahrhundert.

"Rule Britannia, Britannia rule the waves - Herrsche Britannia, Britannia beherrsche die Wellen" heißt es im Refrain des gleichnamigen Liedes aus dem Jahr 1740, den bis heute Tausende von Briten euphorisch in London zum Abschluss der Konzertsaison (Last Night of the Proms) schmettern. Gestützt auf seine Flotte etabliert Großbritannien das größte Kolonialreich der Geschichte, das 1922 zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung mit rund 34 Millionen Quadratkilometern ein Viertel der Landfläche der Erde umfasst. Etwa 458 Millionen Menschen - ein Viertel der Erdbevölkerung - leben im Empire.

Das britische Weltreich war nicht das einzige "seaborne empire", ein aus der See geborenes Reich. Die Eroberung der Meere wirkte sich immer wieder wie ein Katalysator auf politische, gesellschaftliche und ökonomische Prozesse aus und beeinflusste so den Gang der Geschichte nachhaltig.

"Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer." Doch es waren von Anfang an weniger romantische Vorstellungen, die die Menschen auf das Meer zogen, wie es das Zitat des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry nahe legt. Wann sich Menschen erstmals auf jenes Element wagten, das rund 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, liegt im Dunkel der Urgeschichte. Sie taten es in ausgehöhlten Baumstämmen, auf Flößen und Booten, die aus Schilfbündeln oder Tierfellen gefertigt waren und mit Paddeln bewegt wurden. Viel mehr als Fischfang in Küstennähe war auf solchen Wasserfahrzeugen kaum zu bewerkstelligen - und dies war zunächst auch der ausschlaggebende Impuls in den frühen Tagen der Seefahrt.

Erfindung des Segels Die erste und zugleich tiefgreifendste Revolution in der Seefahrt brachte die Erfindung des Segels, das es ermöglichte, mit der Kraft des Windes auch unabhängig von Muskelkraft Seefahrt über weite Strecken zu betreiben. Die älteste Darstellung eines Segelschiffes stammt aus dem alten Ägypten um das Jahr 5.000 vor Christus. Ursprünglich für das Befahren des Nils konstruiert, wagten sich die Ägypter schließlich auf weiterentwickelten Schiffen dieses Typs auf das Mittelmeer und das Rote Meer und etablierten Handelsrouten in die Levante, nach Zypern und in die Inselwelt der Ägäis sowie bis nach Arabien.

Für rund 7.000 Jahre sollte das Segel die Antriebsart schlechthin für Schiffe werden. Auch wenn im Mittelmeer von der Antike bis in die frühe Neuzeit Kriegsgaleeren mit langen Riemen gerudert wurden. Erst mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt Ende des 18. Jahrhunderts und der Entwicklung von Schiffsdieselmotoren Anfang des 20. Jahrhunderts werden die Segelschiffe abgelöst.

Ab dem Jahr 1.000 vor Christus sind es die griechischen und phönizischen Stadtstaaten, die durch die Entwicklung seegängiger Schiffstypen den Seehandel im Mittelmeer dominieren und ab dem 8. Jahrhundert rund um das Mittelmeer Kolonien gründen. Wie "Frösche um einen Teich" säßen die Griechen um das Mittelmeer, spottet der Philosoph Sokrates im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Zu dieser Zeit steigt Athen zu einem "seaborne empire" auf. Der Staatsmann und Feldherr Themistokles deutet angesichts der persischen Invasion Griechenlands das mysteriöse Orakel von Delphi, Athen hinter "hölzernen Mauern" zu verteidigen, richtig und lässt verstärkt Schiffe bauen. 480 vor Christus schlagen die Athener und ihre Verbündeten die persische Flotte bei der Insel Salamis.

Die berühmteste Seeschlacht der Antike sichert Athen nicht nur die Führungsrolle im attisch-delischen Seebund und macht es zur maritimen Handelsmacht, sondern verleiht auch der attischen Demokratie einen gewaltigen Schub. Auf den Ruderbänken der Trieren, den galeerenartigen Kriegsschiffen, sitzt die grundbesitzlose Klasse der Theten, die bislang zwar über das Wahlrecht verfügt, aber von politischen Ämtern ausgeschlossen ist. Dies soll sich nun ändern.

Rund 500 Jahre später ist das Mittelmeer zum "mare nostrum" ("unser Meer") der Römer geworden. Nach dem Ausschalten der phönizischen Seemacht Karthago beim heutigen Tunis und der hellenistischen Großreiche im Osten bildet das Mittelmeer über Jahrhunderte einen geeinten Wirtschaftsraum, der erst mit der Völkerwanderung und der Expansion der muslimischen Araber im 7. Jahrhundert zerfällt.

Lediglich das oströmische beziehungsweise byzantinische Reich ist in der Lage, den Arabern zu See die Stirn zu bieten - und dies nicht zuletzt dank einer Geheimwaffe, dem griechischen Feuer. Diese brennende, zähe und mit Wasser nicht löschbare Flüssigkeit spritzten die Byzantiner mit Hilfe einer Druckpumpe auf feindliche Schiffe. Im Jahr 678 verhinderte vor allem der Einsatz dieses frühen Flammenwerfers die Eroberung Konstantinopels.

Bis in die Neuzeit werden es immer wieder Innovationen in der Waffenentwicklung, im Schiffbau und der Navigation sein, die das Kräfteverhältnis zwischen den Seemächten entscheidend verändern. So leitet 1571 die Seeschlacht von Lepanto mit dem Sieg der Flotte der Heiligen Liga, einem von Papst Pius V. initiierten Bündnis zwischen Spanien, den italienischen Seerepubliken Venedig und Genua sowie dem Malteserorden, über die Flotte der Osmanen eine neues Zeitalter in der Seekriegsführung ein. Die großen und schweren venezianischen Galeassen, eine Weiterentwicklung der Galeeren, erlaubt erstmals den massiven Einsatz von Schiffskanonen.

Genua und vor allem Venedig sind seit dem 11. Jahrhundert zu Seemächten aufgestiegen. Dank Handelsprivilegien im byzantinischen Reich zieht Venedig den Handel mit Gewürzen und Seide aus Indien an sich, der gewaltige Reichtümer in die Lagunenstadt spült. Im "stato da mar" ("Staat des Meeres"), wie die Venezianer ihre Besitzungen im östlichen Mittelmeer stolz nennen, ist alles auf die Seefahrt ausgerichtet. Ausdruck dessen ist das gewaltige Arsenal, in dem bis zu 3.000 Handwerker Schiffe bauen, reparieren und ausrüsten. Lange vor der industriellen Revolution ermöglichen es eine hochspezialisierte Arbeitsteilung und die Verwendung von Fertigteilen, dass Venedig ein Jahr vor Lepanto innerhalb von zwei Monaten hundert Kriegsschiffe vom Stapel laufen lässt. Rund 3.000 Handelsschiffe unterhält die Stadt während ihrer Blütezeit und als eine der wenigen europäischen Mächte eine stehende Kriegsflotte.

Zeitalter der Entdeckungen Den Durchbruch in der weltweiten Seefahrt haben jedoch die Portugiesen geschafft. Anfang des 15. Jahrhunderts initiiert Prinz Heinrich, der als "der Seefahrer" in die Geschichtsbücher eingehen wird, ein ehrgeiziges Programm zur Entdeckung des Seeweges nach Indien, da die Handelsverbindungen über Land durch das Osmanische Reich blockiert sind. Mit neuen, hochseegängigen Schiffstypen wie Karavelle und Karacke tasten sich die portugiesischen Seefahrer an der afrikanischen Küste vor. Bis zum Tod Heinrichs 1460 sind sie bis auf die Höhe des heutigen Sierra Leone vorgedrungen. 38 Jahre nach dem Tod Heinrichs erreicht schließlich Vasco da Gama 1498 nach einer einjährigen Expedition die indische Malabarküste. Sieben Jahre zuvor hatte bereits der genuesische Seefahrer Christoph Kolumbus im Auftrag der spanischen Krone den Seeweg nach Indien auf der Westroute über den Atlantik gesucht und dabei die karibischen Inseln vor dem amerikanischen Doppelkontinent entdeckt.

Die Entdeckungsfahrten im Atlantischen, Indischen und später auch Pazifischen Ozean bescheren Portugiesen und Spaniern nicht nur höchst lukrative Handelsrouten, sondern führen zum Aufbau gewaltiger Kolonialreiche in Afrika, Amerika und Südostasien. Um die Einflusssphären der beiden rivalisierenden Seemächte abzugrenzen, teilt Papst Alexander VI. 1493 die Welt durch eine Trennlinie mitten durch den Atlantik in zwei Hälften. Afrika und Indien sollen Portugal zufallen, die Neue Welt im Westen Spanien. Ein Jahr später verschieben Spanien und Portugal im Vertrag von Tordesillas die Trennlinie ungefähr auf den 46. Längengrad nach Westen, um Portugal die Kolonisierung der von innen entdeckten Küsten Brasiliens zu ermöglichen. 1529 folgt mit dem Vertrag von Saragossa eine weitere Trennlinie entlang des 146. Längengrades, um die Einflusszonen in Südostasien zu regeln. Bei den anderen europäischen Mächten - allen voran Frankreich, England und später den Niederlanden - stoßen diese Verträge, die sie von den überseeischen Reichtümern und vom Handel ausschließen, auf Ablehnung. Schon bald werden sie die Vormachtstellung Portugals und Spaniens zur See erfolgreich attackieren.

Anfang des 16. Jahrhunderts etabliert sich vorgegeben durch die Passatwinde und den Golfstrom der atlantische Dreieckshandel: Die Kolonialmächte transportieren auf dem Seeweg billige Manufakturwaren nach Afrika, um sie dort zu verkaufen. Auf den lokalen Märkten kaufen sie Sklaven, die als billige Arbeitskräfte auf den Zuckerrohr-, Baumwolle und Tabakplantagen Amerikas eingesetzt werden. Die Erzeugnisse der Plantagenwirtschaft finden auf der letzten Etappe des Dreieckshandels ihren Weg nach Europa. Schätzungen gehen davon aus, dass vom 16. bis ins frühe 19. Jahrhundert etwa 40 Millionen Menschen in Afrika versklavt wurden. Doch nur jeder vierte überlebte die Überfahrt über den Atlantik.

Ebenfalls ihren Weg nach Europa finden unglaubliche Mengen an Gold und Silber, das die Spanier in Süd- und Mittelamerika von den unterworfenen Inkas und Azteken erbeuten und abbauen. Zweimal pro Jahr transportieren große Konvois von Galeonen, dem gängigen Schiffstyp im 16. und 17. Jahrhundert, die Edelmetalle nach Spanien. Langfristig führt dies jedoch zu Inflation und schließlich zum Staatsbankrott. Spaniens Stern als See- und Kolonialmacht beginnt zu sinken.

Globalisierter Seehandel Zunächst sind es vor allem die Niederlande, die von Spaniens und Portugals Niedergang am stärksten profitieren und zur führenden europäischen Seemacht werden. Die 1602 gegründete Vereinigte Ostindien-Kompanie (VOC) steigt im 17. und 18. Jahrhundert zu einer der größten Handelsgesellschaften der Weltgeschichte auf, die selbst das mächtige Handels- und Städtebündnis der Hanse zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert im Ost- und Nordseeraum in den Schatten stellt. Ausgestattet vom niederländischen Staat mit Handelsmonopolen und Hoheitsrechten in Landerwerb, Festungsbau und Kriegsführung und erstmals in der Geschichte durch die Ausgabe von Aktien finanziert, hat die VOC den Gewürz-, Tee- und Kaffee-Handel mit Indien und den Molukken fest im Griff. Rund 4.700 Schiffe fahren unter der Flagge der VOC. Zwar werden auch in anderen Staaten Handelskompanien nach dem Vorbild der VOC gegründet, etwa die Englische Ostindien-Kompanie (EIC), aber den geschäftstüchtigen Seefahrern der Niederlande kann vorerst niemand das Wasser reichen. Der globalisierte Seehandel dieser Zeit wird zum Ausgangspunkt für den Kapitalismus in Europa. In drei Seekriegen mit England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verlieren die Niederländer schließlich langsam ihre Vormachtstellung auf See und im maritimen Fernhandel.

Piraterie Wann und wo immer der Seehandel blühte, rief er jene Gesellen auf den Plan, die als Bukaniere, Filibuster und Korsaren Einzug in die Geschichtsbücher fanden. "Krieg, Handel und Piraterie, dreieinig sind sie, nicht zu trennen", wusste schon Johann Wolfgang von Goethe. Piraterie ist bereits in der Antike weit verbreitet, lässt Legenden wie die des Klaus Störtebeker entstehen und zwingt selbst heute noch eine Exportnation wie Deutschland dazu, Kriegsschiffe zu ihrer Bekämpfung an das Horn von Afrika zu entsenden.

Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert hingegen wird Seeraub offiziell gefördert und dient Staaten wie England als Eintrittskarte in den Kreis der Seefahrtsnationen. Mit Kaperbriefen ausgestattet, plündern Freibeuter wie Francis Drake quasi legal spanische Schiffe und Kolonien. Englands Königin Elisabeth I. lässt ihn dafür 1581 sogar zum Ritter schlagen. Später verselbstständigt sich dieses System jedoch und die Kaperfahrer gehen als Piraten auf eigene Rechnung ihrem Gewerbe nach, gründen in der Karibik anarchistische Gemeinschaften wie auf der Karibikinsel Tortuga oder den Bahamas mit eigenen Gesetzen. Als nach dem Spanischen Erbfolgekrieg 1713 Tausende englischer Kaperfahrer, Soldaten und Matrosen der Flotte arbeitslos werden, wechseln sie zur Piraterie und bringen in der Karibik binnen weniger Jahre die Schifffahrt fast zum Erliegen.

Francis Drake machte sich aber nicht nur als "Pirat der Königin" einen Namen. Er umsegelte als Entdecker auf seiner "Golden Hinde" die Welt und kämpfte als Vizeadmiral 1588 erfolgreich gegen die Invasion Englands durch die spanische Armada. Bis heute hängt sein Bild ebenso wie das von Admiral Nelson in der Ahnengalerie englischer Seehelden.