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Bundestag : Die letzte Instanz

Die deutschen Soldaten sollen »Staatsbürger in Uniform« sein, ihre Einsätze demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Die Abgeordneten haben dabei eine…

20.08.2018
2023-08-30T12:34:33.7200Z
6 Min

Nüchterne Betriebsamkeit herrschte im Plenum, die Abgeordneten folgten den Debatten so unaufmerksam, dass Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier (CDU) das Auditorium zur Ordnung rufen musste. "Entschuldigen Sie. Meine Damen und Herren, ich bitte doch um etwas mehr Ruhe", rief er während der fünfstündigen Debatte immer wieder. Dabei ging es an diesem 6. März 1956 im Bundestag um eine der wohl bedeutendsten Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik: Sollte es nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder eine deutsche Armee geben? Die Alliierten waren lange dagegen gewesen. Mit der Verabschiedung von Wehrverfassung und Soldatengesetz legten die Abgeordneten an jenem Dienstag in Bonn den Grundstein für die Schaffung der Bundeswehr. Sehr zur Erleichterung von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Seinem Verteidigungsminister Theo Blank (beide CDU) rief er in der Wandelhalle des Bundeshauses zufrieden zu: "Wir können uns gegenseitig gratulieren."

Das Grundgesetz wurde um mehrere Artikel ergänzt, die zusammen die Wehrverfassung bildeten. Mit ihr zog der Gesetzgeber eine wichtige Lehre aus der jüngsten deutschen Geschichte: War der Reichstag zwischen 1933 und 1945 ein Scheinparlament ohne jeden Einfluss auf die Wehrmacht, sollte die Volksvertretung der Bundesrepublik umfassende Kontrolle über die nationalen Streitkräfte erhalten. Galt die Reichswehr in der Weimarer Republik als "Staat im Staate", sollte der bundesdeutsche Soldat ein "Staatsbürger in Uniform" sein.

Laut Grundgesetz bestimmt der Bundestag seither nicht nur über das Budget der Truppe (Artikel 87a Absatz 1). Mit dem Verteidigungsausschuss verfügt er außerdem über ein Gremium von Verfassungsrang (Artikel 45a). Neben den Ausschüssen für Petitionen, Auswärtiges und Europa ist er der vierte, dessen Einsetzung in jeder Legislaturperiode vorgeschrieben ist. Und der einzige, der sich selbst als Untersuchungsausschuss konstituieren kann. Von diesem Recht hat er schon mehrfach Gebrauch gemacht, etwa als er ab 2009 den Luftangriff auf zwei Tanklastwagen bei Kundus (Afghanistan) beleuchtete oder ab 2013 die gescheiterte Serienbeschaffung der Aufklärungsdrohne Euro-Hawk.

Ergänzt wird die parlamentarische Kontrolle durch das 1959 geschaffene Amt des Wehrbeauftragten (siehe Text unten rechts). Er ist oberste Beschwerdestelle für die Soldaten, einmal im Jahr legt er einen Bericht über den inneren Zustand der Bundeswehr vor - oft eine schonungslose Mängelliste über mieses Material, schleppende Reformen und fehlendes Personal.

Umfassende Rechte Um ihrem Auftrag - Kontrollieren und Entscheiden - gerecht zu werden, steht den Abgeordneten ein üppiges Instrumentarium zur Verfügung. So ist die Regierung verpflichtet, sie vor allem im Auswärtigen und im Verteidigungsauschuss über laufende und geplante Einsätze zu unterrichten. Über die Mandate wird im Plenum öffentlich debattiert und zumeist namentlich abgestimmt.

Die Abgeordneten reisen außerdem regelmäßig in die Einsatzgebiete, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Was sonst problemlos möglich ist, wie diese unisono betonen, wurde im Falle der Türkei vor zwei Jahren zum Politikum. Nachdem der Bundestag im Juni 2016 eine Resolution zum Völkermord in Armenien verabschiedet hatte, verweigerte die türkische Regierung Abgeordneten wiederholt die Besuchserlaubnis für den Militärstützpunkt in Incirlik. Von dort aus starteten deutsche "Tornados" zu Aufklärungsflügen gegen die Extremistenmiliz "Islamischer Staat" (IS). Nach monatelangem diplomatischen Gezerre sprach der Bundestag im Juni 2017 schließlich ein Machtwort. Die Soldaten wurden abgezogen, der Stützpunkt nach Jordanien verlegt.

Kritik an Koalition Von der Bundesregierung fühlen die Abgeordneten sich bisweilen übergangen beziehungsweise zu spät oder ungenügend informiert. "Die Medien haben oft von Details Kenntnis, bevor wir das in den Fachausschüssen haben", sagt etwa Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). "Das ist ein Unding, dem Einhalt geboten werden muss." Alexander Neu, Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss., berichtet, es sei ,,mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme, dass die Regierung um Fristverzicht bittet, damit die Mandate in zwei statt in drei Sitzungswochen verabschiedet werden". Dass die Regierungsfraktionen dieser Bitte regelmäßig nachkämen, sei "ein für den Bundestag unwürdiges Verhalten". Somit sieht Neu einen Teil der Verantwortung auch bei den Parlamentariern: ,,Die Regierungsfraktionen verstehen sich prioritär als Schutzinstanz für die Regierung und die Bundeswehr, denn als gestaltende und die Exekutive kontrollierende Abgeordnete."

Rüdiger Lucassen (AfD) sieht das ähnlich. Die Abgeordneten sollten genauer hinschauen, welchem Mandat sie grünes Licht geben, mahnt er: "In mehr als 25 Jahren hat der Bundestag jeder einzelnen Mandatsverlängerung stets zugestimmt. Statistisch gesehen ist es fraglich, ob er immer gewissenhaft kontrolliert hat."

»Out-of-Area-Urteil« Den Entscheidungen gingen, vor allem nach der deutschen Wiedervereinigung, oft hitzige Debatten voraus. Der Grund: Zu Beginn der 1990er Jahre wandelte sich die Rolle der Bundeswehr massiv - und die des Bundestages mit. Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss das Parlament am 30. Juni 1995, deutsche Soldaten in einen bewaffneten Einsatz im Ausland - nach Bosnien-Herzegowina - zu schicken. Im Reichstag warf das völlig neue Fragen auf: Lässt das Grundgesetz Missionen außerhalb des Nato-Gebiets überhaupt zu? Und wenn ja, muss der Bundestag diese zuvor billigen? Beides bejahte das Bundesverfassungsgericht 1994 in seinem viel beachteten "Out-of-area-Urteil". Es manifestierte die Abhängigkeit der Truppe von parlamentarischen Entscheidungen und prägte den Begriff "Parlamentsarmee".

Doch dauerte es zehn Jahre, bis der Bundestag die genauen Modalitäten der Mandatserteilung regelte - das Parlamentsbeteiligungsgesetz (siehe Text unten links) trat erst am 24. März 2005 in Kraft. Zuvor hatten die Abgeordneten ohne Gesetzesgrundlage schon über zahlreiche Einsätze entschieden. Etwa 1998, als sie für den umstrittenen Einsatz deutscher Kampfflugzeuge im Rahmen der Nato-Mission im Kosovokrieg stimmten, für die kein Mandat der Vereinten Nationen vorlag. Oder im November 2001, als der Bundestag für die Beteiligung an der Anti-Terror-Operation "Enduring Freedom" in Afghanistan votierte. Kanzler Gerhard Schröder (SPD) verknüpfte diese Abstimmung sogar mit der Vertrauensfrage.

Streit um Reform Die Diskussion um die Parlamentsrechte bei Auslandseinsätzen ist zuletzt erneut aufgeflammt. Weil die Bundeswehr zunehmend in Missionen von Nato und EU sowie in multinationale Einheiten eingebunden ist, fürchten Union und SPD einen Verlust der "Bündnisfähigkeit", sollte der Bundestag weiter fast jedem Auslandsmandat zustimmen müssen. Die "Rühe-Kommission" sollte daher prüfen, wie die Parlamentsrechte bei der Mandatierung angepasst werden können. Sie empfahl 2015, bestimmte Einsätze von der Zustimmungspflicht auszunehmen (siehe Text unten links). Ein darauf basierender Gesetzentwurf zur Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes schaffte es jedoch am Ende der vergangenen Legislaturperiode gar nicht erst ins Plenum. Experten hatten verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet, Teilen von CDU und CSU gingen die Vorschläge nicht weit genug.

CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter bedauert das Scheitern des Projekts. "Eine gelungene Reform wäre ein wichtiger Beitrag dazu gewesen, die Bündnisfähigkeit Deutschlands zu erhöhen und dem Credo, mehr Verantwortung übernehmen zu wollen, mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen." Es sei geplant gewesen, die Informationspflichten der Regierung zu verstärken, Einsätze zu evaluieren und jährlich eine sicherheitspolitische Debatte im Bundestag zu führen. "Damit wäre die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament deutlich erhöht worden", urteilt er.

Mit der Reform hätte die Regierung "ein politisches Signal der Verlässlichkeit an die Verbündeten gesendet", bedauert auch der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmid. Die Liberale Strack-Zimmermann betont: "Im Lichte der angestrebten Schaffung von EU- und Nato-Einsatzkräften wollen wir den Parlamentsvorbehalt weiter entwickeln, um gemeinsame Einsätze zu erleichtern. Das aber natürlich nur unter voller Berücksichtigung der Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts."

» Legitimität und Akzeptanz« AfD, Linke und Grüne warnen indes vor einer Aufweichung des Parlamentsvorbehalts. Bei Auslandseinsätzen werde über Leben und Tod entschieden, betont der Linken-Abgeordnete Neu. "Die Mechanismen dürfen daher keineswegs aufgrund fadenscheiniger Bündnisverpflichtungen relativiert werden." Fiele die parlamentarische Kontrolle weg, fänden sich deutsche Soldaten "in allen Winkeln unserer Erde wieder", fürchtet der AfD-Abgeordnete Lucassen.

Für Frithjof Schmidt (Bündnis 90/Die Grünen) erhalten Auslandseinsätze ihre Legitimität und Akzeptanz durch die Debatten und Entscheidungen im Bundestag. Wie die Linken drängt seine Fraktion darauf, die Kompetenzen des Parlaments zu stärken statt zu schwächen. So sollten dessen Informationsrechte bei Einsätzen von KSK-Spezialkräften verbessert werden.

Doch es scheint beim Status quo zu bleiben, ein neuer Reformanlauf ist nicht in Sicht. Was Nils Schmid nicht schlimm findet. "Es besteht auch unter der gegebenen Rechtslage keine Gefahr für die Erfüllung unserer Bündnisverpflichtungen", betont der SPD-Abgeordnete. "Deshalb sollten wir auf Grundlage des bestehenden Gesetzes, das sich seit Jahren bewährt hat, weiterarbeiten."