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Vergangenheit : Die eigene Geschichte im Blick

2017 wurde der Traditionserlass der Bundeswehr reformiert. Das war längst überfällig

20.08.2018
2023-08-30T12:34:34.7200Z
4 Min

Seit März 2018 verfügt die Bundeswehr über einen neuen "Traditionserlass". Er ist kein eigenständiges Dokument, sondern Bestandteil der Bundeswehrvorschrift "Innere Führung - Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr". Aus diesem Grund verwundert es, dass ein nebensächliches Dokument wie der "Traditionserlass" ein solches öffentliches Interesse hervorruft. Die "Innere Führung" dagegen ist die innovative und moderne Organisations- und Führungsphilosophie der Bundeswehr, die bereits seit dem Aufbau der Bundeswehr im Jahr 1955 eine wichtige Grundlage für ihre Integration in die parlamentarisch-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ist. Unter anderem sind die soldatische Ordnung, das Wertgerüst, die ethischen Grundlagen des Soldatenberufes, die historische Herleitung und der "Traditionserlass" Teil der "Inneren Führung". Im neuen Erlass ist die "Innere Führung" ausdrücklich in den Traditionsbestand aufgenommen worden. Die öffentliche Aufmerksamkeit begründet sich damit, wie die Bundeswehr mit der schweren Last der deutschen Geschichte umgeht.

Der erste "Traditionserlass" stammt aus dem Jahr 1965. Die Bundeswehr benötigte damals dringend Richtlinien zum Umgang mit der Wehrmacht im Nationalsozialismus und ihrem historischen Erbe. Im zweiten Erlass von 1982 wurde die Tradition der Bundeswehr wertgebunden angelegt und zog eine Trennlinie zum "Dritten Reich". Dieser Erlass galt bis März 2018 und konnte weder die Deutsche Einheit, die Wandlung der Bundeswehr zur Armee der Einheit und im Auslandseinsatz noch die immer ausgeprägter werdende internationale Vernetzung oder auch die Aussetzung der Allgemeinen Wehrpflicht berücksichtigen.

Die Vorfälle am französischen Bundeswehrstandort in Illkirch-Graffenstaden änderten dann schlagartig vieles. Dort wurde im Mai 2017 ein rechtsextremer Bundeswehr-Offizier, der ein Doppelleben als syrischer Flüchtling führte, wegen des Verdachts festgenommen, einen terroristischen Anschlag vorbereitet zu haben. Zudem sorgte der Umgang mit Wehrmachts-Devotionalien in dieser Kaserne für eine breite Debatte über das Verhältnis der Bundeswehr zur Geschichte der Wehrmacht. Diese Vorfälle veranlassten und beschleunigten zwar die Überarbeitung des "Traditionserlasses". Sie sind aber nicht als Ursache für die bis dahin bereits dringende Notwendigkeit zu werten. Vielmehr ist es aufgrund der vielschichtigen Veränderungen seit 1982 unbedingt erforderlich geworden, das Dokument an die Gegenwart anzupassen. Es musste daher ein Traditionsverständnis der Bundeswehr formuliert werden, das aus der Geschichte die Traditionspflege der Gegenwart regelt und in die Zukunft weist. Denn Tradition ist im Verständnis der Bundeswehr eine wertbezogene Auswahl aus der Geschichte. Sie ist eben nicht die Geschichte der Bundeswehr oder ihrer Vorgängerstreitkräfte.

Sinnstiftende Auswahl Das neue Dokument "Die Tradition der Bundeswehr. Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege" richtet sich erstmals an alle Angehörigen der Bundeswehr, also Soldaten, Beamte und Arbeitnehmer. Dieses Traditionsverständnis gilt seither für alle zivilen und militärischen Organisationsbereiche und öffnet ausdrücklich die gesamte Militärgeschichte für eine sinn- und traditionsstiftende Auswahl. Die bisherige Verengung auf drei "Traditionslinien" wie den Widerstand gegen das NS-Regime, die Heeresreformen während der napoleonischen Befreiungskriege oder die eigene Geschichte der Bundeswehr ist damit endgültig selbst Geschichte. Zentraler Bezugspunkt der Tradition ist nun die eigene Geschichte der Bundeswehr. Dies ist schlüssig, weil diese Geschichte inzwischen einen reichhaltigen Fundus für eine traditions- und sinnstiftende Auswahl von Ereignissen, Persönlichkeiten, Symbolen oder Zeremoniellem bietet. Konsequent ist weiterhin, dass Ausschlüsse klar und unmissverständlich formuliert sind. Vorherige deutsche Streitkräfte wie die Reichswehr, das Kontingentheer mit der kaiserlichen Marine sowie die Wehrmacht und Nationale Volksarmee als Hauptwaffenträger in Diktaturen stiften als Institution keine Tradition für die Bundeswehr. Eine Gleichstellung zwischen der Wehrmacht und der Nationalen Volksarmee der DDR wird aber nicht vorgenommen.

Was für die Institution gilt, erstreckt sich aber nicht zwangsläufig auf ausgewählte Persönlichkeiten. Personen können durchaus Tradition stiften, wenn sie nicht persönlich schuldig geworden sind und in der Gesamtbewertung eine herausragende Einzeltat oder das Eintreten für Recht und Freiheit historisch nachgewiesen werden kann. Dies trifft beispielsweise für den ehemaligen Generalfeldmarschall der Wehrmacht Erwin Rommel zu, der zwar verbrecherische Befehle Adolf Hitlers nicht befolgte, dessen Rolle im Widerstand gegen das NS-Regime aber umstritten bleibt. Aber reicht militärisch-handwerkliche Exzellenz alleine aus? Im Fall des ehemaligen Oberst der Luftwaffe der Wehrmacht Helmut Lent sind vorbildliche militärische Qualitäten und die Konfession zur Bekennenden Kirche belegbar. Sowohl Rommel als auch Lent waren soldatische Profiteure im NS-System. Der gravierende Unterschied ist jedoch, dass eine herausragende Tat wie bei Rommel im Fall von Lent eben nicht zu konstatieren ist. Der neue "Traditionserlass" enthält für solche Fälle nachvollziehbare Vorgaben. Zudem leitet er systematisch ab, was Tradition ist, warum die Bundeswehr eine Tradition benötigt und weshalb es keine ungebrochene deutsche Militärtradition gibt. Im Hinblick auf die vor allem auch öffentlich geführte Diskussion zu bestehenden Kasernennamen oder anderen Benennungen legt er erstmals fest, dass diese dem neuen Erlass entsprechen müssen. Deshalb werden alle Traditionsnamen in der Bundeswehr derzeit überprüft und müssen neu bewertet werden. Einige noch bestehende Namensgebungen werden dann wohl korrigiert werden müssen, wenn deren sinnstiftende Funktion heute nicht mehr klar erkennbar ist. Selbst wenn eine bestehende Benennung bereits so alt wie die Bundeswehr selbst ist, trägt dies als alleinige Begründung erst recht nicht.

Insgesamt beschreibt der neue Erlass keine fundamentale Neuausrichtung der Tradition der Bundeswehr. Er vollzieht auch keinen Schnitt im Sinne, dass er alles vor 1955 von vornherein ausklammert. Das Gegenteil ist der Fall, denn er hebt die bisher starre Auslegung auf wenige Traditionslinien auf und öffnet den Traditionskanon der Bundeswehr für die gesamte deutsche Militärgeschichte - und damit auch für die Zeit vor der Gültigkeit des Grundgesetzes. Die Angehörigen der Bundeswehr erhalten somit mehr Entscheidungsfreiheit und Handlungssicherheit. In der Zukunft wird sich zeigen, ob diese Freiheiten im täglichen Dienst in der Bundeswehr genutzt werden, um die Traditionspflege mit Leben zu füllen.

Der Autor ist Historiker und publiziert zur Militärgeschichte.