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Amri-Ausschuss : In den chaotischen Zeiten des blinden Glaubens

Ernüchternde Einblicke in Lageso-Alltag

12.11.2018
2023-08-30T12:34:37.7200Z
3 Min

Wieder zwei Zeugen, die sich an Anis Amri, den Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, partout nicht erinnern können. Obwohl die Aktenlage eindeutig ist: Sie hatten irgendwann einmal dienstlich mit ihm zu tun. So oder ähnlich hat der 1. Untersuchungsausschuss das in den vergangenen Wochen mehrfach erlebt, in denen er versuchte, den Ereignissen im Spätsommer und Herbst des Jahres 2015 nachzuspüren, als der verhängnisvolle Deutschland-Aufenthalt des Tunesiers seinen Anfang nahm.

Amri war in Freiburg eingereist, in Karlsruhe beim Schwarzfahren erwischt worden, hatte sich in Ellwangen eine neue "BüMA" abgeholt, eine "Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender", und war nach Berlin weitergezogen. Auf den Spuren dieser Deutschland-Tournee hat der Ausschuss seit der Sommerpause Menschen gehört, die Amri damals begegnet sind oder anderweitig mit ihm zu tun hatten, einen Polizisten, Staatsanwälte, Mitarbeiter von Erstaufnahmeeinrichtungen.

Doch keiner von diesen wusste wesentlich mehr zu erzählen als in der vorigen Woche etwa Jacqueline Wagner. Die heute 28-Jährige ist seit Februar 2014 als Fachangestellte für Bürokommunikation im Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) tätig, wo Amri in der zweiten Jahreshälfte 2015 dreimal unter verschiedenen Namen vorstellig wurde. Dass der Urheber des bis heute opferreichsten radikalislamischen Anschlags in Deutschland ihr damals über den Weg gelaufen sein könnte, davon hatte die Zeugin Wagner, wie sie bei ihrem Auftritt erklärte, bis vor kurzem keinen Schimmer. Sie weiß es jetzt, nachdem der Ausschuss sie vorgeladen hatte.

Völlig überlastete Mitarbeiter Am 28. Juli 2015 tauchte Amri unter dem Namen "Mohammed Hassan" beim Lageso auf. In der Akte, die den Vorgang dokumentiert, findet sich die Unterschrift des zuständigen Sachbearbeiters Michael Wolter. Doch auch der heute 61-Jährige, im Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten nach wie vor mit der Verwaltung der Migration befasst, kann sich daran beim besten Willen nicht erinnern. Es sei sogar gut möglich, sagte Wolter den Abgeordneten, dass er Amri überhaupt nicht persönlich zu Gesicht bekommen habe.

Das völlig überlastete Lageso habe damals zahlreiche angelernte Hilfskräfte eingesetzt, die im Namen der Zuständigen die Personalien von Neuankömmlingen aufgenommen hätten. Allein auf seinem Rechner seien rund 20 weitere Mitarbeiter eingeloggt gewesen. Wer von denen den angeblichen Mohammed Hassan abgefertigt und ihm anschließend den Vorgang zur Überprüfung und Unterschrift vorgelegt habe, wisse er nicht.

Wie hätte Wolter, wie hätten all die anderen Zeugen aus diversen Behörden auch ahnen sollen, dass der Tunesier, damals ein Fall unter zahllosen, einmal in die deutsche Geschichte eingehen würde? So ist der Ausschuss mit dieser Vernehmungsserie auf eine Spur geraten, auf der ihn von der AfD abgesehen keine der übrigen Fraktionen sehen will. Nicht mehr die Vorgeschichte des Breitscheidplatz-Attentats im besonderen, sondern die rückschauende Betrachtung der Flüchtlingskrise im allgemeinen rückte in den Fokus. Zu diesem Thema jedenfalls, wenn schon nicht zur Person des Attentäters, wussten alle Beteiligten Beeindruckendes zu berichten.

So in der vorigen Woche der Zeuge Wolter: "Damals war die Situation, unter der wir gearbeitet haben, katastrophal." Dasselbe Wort, "katastrophal", hörten die Abgeordneten auch von seiner Kollegin Wagner: "Es war sehr schlimm, gefühlt hunderte, tausende Menschen auf dem Gelände, es war wirklich sehr schlimm." Nach Wolters Erinnerung hatte sich die Entwicklung bereits zwei Jahre vor der großen Krise abgezeichnet: "Ab 2013 fing das an, richtig massiv zu werden. Das hat sich dann gesteigert, war anfangs ein schleichender Prozess." Das Ziel jedes Arbeitstages sei damals gewesen, dass "abends keine Person mehr unten auf der Straße" stehe. Die Mitarbeiter des Lageso taten sich damit zunehmend schwer.

Sammeln von Kisten Sie notierten Namen und Herkunft der Neuankömmlinge, nahmen ihnen Fingerabdrücke ab, konsultierten das Ausländerzentralregister. Am Ende lag eine Akte bereit zur Weiterleitung an die Behörden des Bundeslandes, in das der Bewerber nach der Erstaufnahme vermittelt worden war. Indes, so Wolter: "Es kamen immer mehr Leute als bearbeitet werden konnten. Wir haben die Vorgänge dann in Postkisten gegeben mit den Bearbeitungsdaten, aber es nahm kein Ende, bis wir soweit waren, dass wir eine Kiste nach der anderen, bis man den Überblick verloren hatte, ansammeln mussten."

Dass Amri mit erfundenen Identitäten jonglierte, als Mohammed Hassan, dann wieder als Ahmad Zaghloul oder auch Ahmad Zarzour unterwegs war, blieb in diesem Chaos unbemerkt. Weil die Technik zur elektronischen Erfassung von Fingerabdrücken fehlte, half nur blinder Glaube. Wolter: "Wenn mir jemand sagt, er heißt so und so und kommt aus dem und dem Land, habe ich das erst einmal hinzunehmen."