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Beziehungen : Gemeinsam für mehr Europa

Brexit und wachsender Nationalismus in der EU lassen Deutschland und Frankreich enger zusammenrücken

26.11.2018
2023-08-30T12:34:38.7200Z
8 Min

Emmanuel Macron ist ein gewisses Pathos eigen. Deshalb scheute der französische Präsident in seiner Rede zum Volkstrauertag nicht vor einer offenen Liebeserklärung an Deutschland zurück: "Auch wenn man nicht immer die Worte versteht, die aus Frankreich kommen. Denken Sie daran, dass Frankreich Sie liebt", schloss er seine 20-minütige Ansprache vor dem Bundestag, die die Abgeordneten mit stehendem Applaus quittierten (siehe auch "Ortstermin" auf Seite 12). Dabei war das, was Macron vom Nachbarn verlangte, keine leichte Kost. "Heute müssen wir zusammen den Mut finden, ein neues Kapitel aufzuschlagen, denn das schulden wir Europa", forderte der Staatschef. Europa und das deutsch-französische Paar hätten die Pflicht, die Welt nicht ins Chaos abgleiten zu lassen. "Wir müssen unsere Tabus überwinden und unsere Denkverbote hinter uns lassen."

Es war ein diskreter Hinweis an all jene, die sich gegen seine Ideen zur Reform der EU sperren. Mit viel Elan hatte der 40-Jährige vor gut einem Jahr an der Pariser Sorbonne eine Neugründung Europas gefordert, die alle Bereiche erfassen soll. Doch sein Leuchtturmprojekt, die Einführung eines Eurozonen-Budgets, stößt immer noch auf Widerstand. Zwar einigten sich die Finanzminister Deutschlands und Frankreichs Mitte November auf ein zweiseitiges Papier. Doch das lässt viele Fragen offen. Zum Beispiel, was die Höhe des Budgets angeht. Macron schwebten zunächst dreistellige Milliardenbeträge vor, inzwischen ist eher eine Summe im unteren zweistelligen Bereich im Gespräch. Auch wie sich der Eurozonen-Haushalt finanzieren und wofür das Geld genau ausgegeben werden soll, bleibt vage. "Das ist ein Kompromiss auf kleinstmöglichem Nenner", kritisierte Europaabgeordnete der Grünen, Sven Giegold. "Mit einem kleinen Milliardenbetrag ist nichts gewonnen."

Große Widerstände Deutschland und Frankreich hatten sich beim gemeinsamen Ministerrat in Meseberg im Juni grundsätzlich auf das lange umstrittene Eurozonen-Budget geeinigt, das die Währungsunion stabiler machen soll. Doch andere EU-Ländern wie die Niederlande und Italien sperren sich weiter gegen die Pläne. Bis zum EU-Gipfel Mitte Dezember bleibt dem deutsch-französischen Tandem nur wenig Zeit, um die Skeptiker zu überzeugen. In den vergangenen Wochen besuchte Macron zahlreiche europäische Länder, um dort um Unterstützung zu werben.

Der Präsident braucht vor den Europawahlen im Mai dringend einen Erfolg auf europäischer Ebene. Doch eine Einigung mit Deutschland reicht nicht mehr aus, um auch die anderen Partner zu überzeugen. "Auch wenn es keinen Automatismus gibt, wenn Deutschland und Frankreich die Initiative ergreifen, so ist es in der jüngsten Zeit doch schwieriger geworden, die ganze EU hinter deutsch-französischen Vorschlägen zu einen", sagt Eileen Keller vom deutsch-französischen Institut in Ludwigsburg. Bei Fragen wie beispielsweise der Besteuerung von Internetfirmen wollen andere Länder ebenfalls ein Wörtchen mitreden. Das Thema ist auch zwischen Deutschland und Frankreich heikel, denn der französische Finanzminister Bruno Le Maire will die Steuer so schnell wie möglich und auf europäischer Ebene einführen, während sein deutscher Kollege Olaf Scholz (SPD) ein System sucht, das über die EU hinausreicht. "Die Steuer ist zu einem politischen Prestigeprojekt geworden", heißt es aus deutschen Diplomatenkreisen in Paris.

Mehr Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich herrscht bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik, für die Macron ebenfalls seit langem wirbt - diesmal mit Erfolg. "Noch nie ist Europa in der Verteidigungspolitik so schnell vorangekommen", lobte der Präsident im August vor den französischen Botschaftern. Ermutigt durch die Fortschritte schlug er in einem Radiointerview wenige Wochen später eine eigene europäische Armee vor. Eine Idee, die von den USA allerdings sofort rüde zurückgewiesen wurde. "Sehr beleidigend", nannte US-Präsident Donald Trump den Vorschlag. "Vielleicht sollte Europa zuerst seinen gerechten Anteil an der Nato bezahlen, die die USA erheblich bezuschussen!", twitterte er direkt nach seiner Ankunft in Paris, wo er am 11. November zusammen mit mehr als 70 Staats- und Regierungschefs an das Ende des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren erinnerte. Bewusst hatte Macron bei der Zeremonie am Triumphbogen auf eine Militärparade verzichtet und stattdessen die deutsch-französische Freundschaft in den Mittelpunkt gestellt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) saß bei den Feierlichkeiten neben dem Gastgeber und hielt später die Eröffnungsrede auf einem Friedensforum. All das war nicht nach dem Geschmack Trumps, der nach seiner Rückkehr nach Washington noch einmal in einer Twitter-Serie gegen Macron nachlegte.

Von Merkel bekam der französische Präsident hingegen Rückendeckung. "Eine gemeinsame europäische Armee würde der Welt zeigen, dass es zwischen den europäischen Ländern nie wieder Krieg gibt", sagte die Bundeskanzlerin vor dem Europaparlament.

Überhaupt scheint der US-Präsident mit seiner "America First"-Politik Deutschland und Frankreich enger zusammenzuschweißen. "Das Schlagwort Europäische Armee überzeugt, denn es zeigt, dass man in Zukunft nur gemeinsam vorankommen kann", urteilt Ronja Kempin, Frankreich-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Auch der geplante Austritt Großbritanniens aus der EU bringt Deutschland und Frankreich einander näher. Beide Länder bekommen mit dem Verlust des unbequemen Partners auf der anderen Seite des Ärmelkanals nämlich mehr Verantwortung. "Deutschland und Frankreich werden noch wichtiger", meint Kempin. Dass ein anderes Land die Rolle Großbritanniens übernimmt, ist eher ausgeschlossen. Die Niederlande sind dafür zu klein und Polen und Ungarn haben sich durch ihr Abrücken von rechtsstaatlichen Prinzipien derzeit diskreditiert. Dennoch könnten gerade Polen und Ungarn im Europawahlkampf, der allmählich beginnt, eine entscheidende Rolle spielen. Macron hat den ungarischen Regierungschef Viktor Orban bereits zu seinem Gegenspieler erklärt. Er sieht eine klare Polarisierung zwischen den progressiven Kräften und den Nationalisten, die seiner Ansicht nach die EU kaputt machen wollen.

Im Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich funktionierte diese Zweiteilung gut, doch in der EU scheint das Schwarz-Weiß-Schema weniger zu passen. Wohl auch deshalb stellt Macron in seinen Reden inzwischen die europäische Souveränität nach vorn, die vor allem durch Feinde von außen gefährdet sei. In seiner Ansprache vor dem Bundestag kam das Wort "Souverainté" gleich mehrmals vor.

"Adieu Progressismus, Bonjour Souveränität", kommentierte die Zeitung "L'Opinion" den rhetorischen Wechsel, den auch Angela Merkel gut heißen dürfte. Denn eine Auseinandersetzung mit den Nationalisten à la Orban hätte ihre Europäische Volkspartei (EVP) spalten können, zu der auch die Partei des ungarischen Regierungschefs gehört.

Wahlkampf-Wettbewerber Im Europawahlkampf werden Merkel und Macron sich ohnehin in unterschiedlichen Lagern wiederfinden, denn der französische Präsident will sich mit seiner jungen Partei La République en Marche (LREM) den Liberalen anschließen, während die Bundeskanzlerin mit der CDU in der EVP ist. "Im Europawahlkampf sind Merkel und Macron natürlich auch Wettbewerber", sagt Eileen Keller.

Noch aber herrscht Harmonie zwischen der erfahrenen Kanzlerin, die am Ende ihrer politischen Karriere angekommen ist, und dem jungen Staatschef. "Die deutsch-französischen Beziehungen sind momentan besser als unter Merkel und François Hollande", bemerkt Ronja Kempin. "Es herrscht die Bereitschaft, über den Tag hinaus Zukunftsvisionen gemeinsam zu entwickeln." Dass es solche Visionen überhaupt gibt, ist vor allem Macron zu verdanken, der direkt nach der Bundestagswahl an der Sorbonne seine Reformagenda für Europa vorgestellt hatte. Lange musste er danach warten, bis Deutschland auf seine Vorschläge reagierte. Erst zog sich die Regierungsbildung hin, dann beherrschte der Koalitionsstreit die politische Tagesordnung. Im Juni einigte man sich in Meseberg schließlich auf gemeinsame Projekte, doch nach wie vor herrscht Unsicherheit, was davon auch umgesetzt werden kann. Von einer "großen verpassten Gelegenheit" für Merkel und Macron schrieb die Zeitung "Le Monde".

Mit dem Rückzug von Merkel als CDU-Chefin droht der Präsident seine wichtigste Verbündete zu verlieren. Angesichts des Aufstiegs rechter Kräfte in Deutschland und Europa habe die Entscheidung "nichts Beruhigendes", sagte Macron. "Die Ankündigung des schrittweisen Rückzugs der Kanzlerin ist ein schwerer Schlag für das deutsch-französische Paar und die Europäische Union", kommentierte auch die Zeitung "Le Figaro".

Allerdings könnte sich durch den Wechsel auch eine Chance für Frankreich ergeben. "Wenn die Pro-Europäerin Annegret Kramp-Karrenbauer CDU-Parteichefin wird, ist das sicher eine gute Nachricht für Frankreich", sagte der Leiter der Robert-Schuman-Stiftung, Jean-Dominique Guiliani, im "Figaro". Das viel beschworene deutsch-französische Duo dürfte selbst nach einem Wechsel im Kanzleramt weiter funktionieren. "Die deutsch-französischen Beziehungen sind so solide und gut, dass jeder, der ins Amt kommt, sich ihnen verschreiben wird", bemerkt Kempin.

Lifting für Elysée-Vertrag Grundlage für das gute Verhältnis der beiden einstigen "Erbfeinde" ist der Elysée-Vertrag aus dem Jahr 1963, der im nächsten Jahr eine Art Lifting erfahren soll. Das Abkommen, das Charles de Gaulle und Konrad Adenauer vereinbarten, soll um einen neuen Freundschaftsvertrag ergänzt werden. Das kündigten Merkel und Macron zum 55. Jahrestag der Unterzeichnung in einem gemeinsamen Video an, das in jenem Saal im Elysée-Palast aufgenommen wurde, in dem ihre Vorgänger einst das historische Dokument unterzeichneten. Ziel ist es, den Grenzregionen mehr Zuständigkeiten zu geben und im Bereich der beruflichen Bildung enger zusammenzuarbeiten. Beide wollen gemeinsame Infrastrukturprojekte voranbringen, durch mehr Austauschmöglichkeiten soll die Sprache des Partnerlandes für Schüler wieder attraktiver werden. Ergänzt werden soll der neue Vertrag durch eine konkrete Liste von gemeinsamen Projekten. "Deutschland und Frankreich sind nach der Phase der notwendigen Aussöhnung in die Phase der Partnerschaft getreten", sagt Kempin. "Das muss sich in dem Dokument widerspiegeln." Das neue Abkommen sei deshalb ein starkes Signal und mehr als nur Symbolik.

Parallel zum neuen Text verstärken auch Bundestag und Nationalversammlung ihre Zusammenarbeit. Mitte November legten Delegationen beider Länder in Paris das Deutsch-Französisches Parlamentsabkommen vor, das die Kooperation auf parlamentarischer Ebene institutionalisieren soll. Kernstück ist die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, die aus 50 Bundestagsabgeordneten und 50 Mitgliedern der französischen Nationalversammlung besteht und künftig abwechselnd in Deutschland und Frankreich tagen soll. Sie soll insbesondere in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik größtmögliche Überstimmung erzielen. Allerdings hat sie keine gesetzgeberischen Befugnisse, sondern soll eher als Katalysator wirken.

»Starke Stimme« "Wir müssen die deutsch-französischen Beziehungen stärken, sie auf eine neue, ehrgeizigere Ebene heben", forderte die Ko-Vorsitzende der deutsch-französischen Arbeitsgruppe, Sabine Thillaye. "Entwickeln wir eine gemeinsame Streitkultur, die es uns ermöglicht, uns gegenseitig zu ergänzen, insbesondere hinsichtlich der heikelsten Themen." Ihr deutscher Kollege Andreas Jung (CDU) erklärte: "Die deutsch-französische Partnerschaft ist mehr als ein Regierungsvertrag. Sie wird getragen von den Menschen, und die Volksvertreter beider Länder können ihnen gemeinsam eine starke Stimme in der konkreten Gestaltung der Zusammenarbeit geben."

Das Parlamentsabkommen soll am 22. Januar in Bundestag und Nationalversammlung feierlich verabschiedet werden. Gleichzeitig wollen beide das deutsch-französische Freundschaftsabkommen ratifizieren - pünktlich zum 56. Jahrestag des alten Elysée-Vertrags.

Die Autorin ist freie Korrespondentin in Paris.