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UMWELT I : Das große Sterben

Eine Million Arten sind laut dem Weltbiodiversitätsrat vom Aussterben bedroht. Im Bundestag werfen die Grünen der Bundesregierung vor, das Problem zu verschlafen

13.05.2019
2023-08-30T12:36:22.7200Z
4 Min

Die dramatische Warnung des Weltbiodiversitätsrates vor einem enormen Artensterben hat im Bundestag ein großes Echo gefunden. Es sei gut, dass die Bundesregierung den Bericht als "Weckruf" bezeichnet habe, sagte Grünen-Abgeordnete Steffi Lemke während einer von ihrer Fraktion beantragten Aktuellen Stunde am vergangenen Freitag. Denn daraus lasse sich schließen, dass die Bundesregierung seit Jahren nicht auf diesen Wecker höre und "endlos die Schlummertaste" drücke. Vertreter der Koalition wiesen diesen Vorwurf entschieden zurück.

Fokus Nachhaltigkeit Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) hatte seinen Bericht Anfang vergangener Woche vorgelegt. Demzufolge sind bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Das Ausmaß des Artensterbens sei in der Geschichte der Menschheit noch nie so groß gewesen, warnte der Biologe Josef Settele, einer der drei Hauptautoren. Die Menschheit lasse die Natur in rasendem Tempo von der Erde verschwinden. Derzeit gibt es dem Report zufolge noch geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten. In den meisten Lebensräumen auf dem Land ist der Analyse zufolge die Zahl dort natürlich vorkommender Arten im Mittel um mindestens 20 Prozent geschwunden, zumeist seit 1900. Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast 33 Prozent der riffbildenden Korallen und mehr als ein Drittel aller marinen Säugetierspezies sind bedroht. Gravierende Folgen für Menschen weltweit seien inzwischen wahrscheinlich. Daher dürfe nicht länger wirtschaftliches Wachstum im Fokus der Weltgemeinschaft stehen, mahnen die Autoren. Neue, nachhaltige Finanz- und Wirtschaftssysteme seien nötig. Zahlreiche der im Bericht aufgelisteten Entwicklungen hängen eng mit dem rasanten Wachstum der Weltbevölkerung zusammen.

In der Debatte im Bundestag forderte Grünen-Abgeordnete Lemke von der Bundesregierung, noch in diesem Jahr entschieden zu handeln, statt Ziele für 2030 oder 2050 festzulegen. Sie schlug unter anderem vor, bis 2025 den Pestizideinsatz zu halbieren. Bienengefährdende Pestizide müssten sofort verboten werden. Auf EU-Ebene müsse die Gemeinsame Agrarpolitik neu ausgerichtet werden. Das Massenaussterben ließe sich noch stoppen, "wenn wir in sehr großer Entschiedenheit handeln", sagte Lemke.

"Wir können nicht mehr länger wegschauen", betonte Maria Flachsbarth (CDU), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Deutschland übernehme aber bereits Verantwortung, sagte die Christdemokratin Ihr Ministerium fördere etwa Projekte zum Schutz von Tropenwäldern. "Wir handeln entschlossen", stellte Flachsbarth fest.

Das betonte auch Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Die Bundesregierung habe den Wecker nicht nur schon lange gehört. "Wir sind schon lange aufgestanden", sagte die Staatssekretärin. Sie verwies beispielsweise auf Projekte wie das "Blaue Band" und das "Nationale Naturerbe".

Dietmar Friedhoff (AfD) mahnte, dass die Menschheit ihre Art zu leben, ändern müsse, um das Überleben der Arten sicherzustellen. Als problematische Faktoren benannte Friedhoff das Bevölkerungswachstum, den ungezügelten Konsum sowie die Globalisierung und Digitalisierung. Aber auch die "linksgrüne Energiewende" trage dazu bei, etwa durch die Windkraft, die zum "Wegschreddern" von Insekten und Vögeln führe, kritisierte Friedhoff.

Carsten Träger (SPD) sagte, der Bericht sei ein "Alarmsignal". Es sei höchste Zeit, "dass wir als Politik dieser Verantwortung gerecht werden". Das Artensterben als globales Problem bedürfe globaler Maßnahmen, stellte Träger klar, aber auch in Deutschland und Europa sei noch viel zu tun. Träger verwies unter anderem auf die Förderpolitik im Rahmen der EU-Agrarpolitik. Künftig müssten Landwirte, die für Natur-, Tier- und Umweltschutz auf Erträge verzichten, gefördert werden, forderte der Sozialdemokrat.

Judith Skudelny (FDP) warf Grünen und SPD vor, mit ihren Vorstellungen zur Landwirtschaft in Deutschland indirekt den Flächenverbrauch in Entwicklungs- und Schwellenländern zu forcieren. Statt Erträge in Deutschland sinken zu lassen, müssten sie vielmehr mindestens erhalten werden. Gleichzeitig müsse aber auch bei der Biodiversität Fortschritte gemacht werden. Skudelny kritisierte das Landwirtschafts- und das Umweltministerium dafür, sich in einem "Zickenkrieg" zu ergehen, statt Hand in Hand etwas für Deutschland und den Umweltschutz zu tun. Es reiche nicht, nur Papiere vorzulegen. Den Ideen müssten Taten folgen, forderte die FDP-Abgeordnete.

Systemfrage Lorenz Gösta Beutin (Die Linke) sagte, aus dem Bericht folge, dass "wir unsere Art zu leben, unsere Art zu konsumieren, unsere Art zu wirtschaften" von Grund auf ändern müssten. Das aktuelle Artensterben sei menschengemacht, etwa durch die Agrarindustrie oder den Klimawandel. Es reiche nicht, den Kapitalismus grün anzumalen, der Kapitalismus müsse überwunden werden. Nicht-Handeln sei keine Option, so werde vielmehr die Zukunft der Menschheit gefährdet. "Fangen wir an, ungehorsam zu sein, gehen wir auf die Straße, wagen wir die Rebellion", sagte Beutin.

Klaus-Peter Schulze (CDU) wies Beutins Forderungen nach der Überwindung des Kapitalismus mit Verweis auf seine Erfahrungen mit Umweltzerstörung in der DDR zurück. Der Christdemokrat hob hervor, dass es teils Zielkonflikte gebe. So könne der Waschbär, eine invasive Art und ein Eierräuber, nicht nur mit der Flinte bejagt werden. Dafür müsste eigentlich die Fallenjagd wieder aktiviert werden, was aber zu Problemen beim Tierschutz führe. Schulze appellierte zudem an die Verantwortung der Verbraucher. So trage die Nachfrage nach Garnelen zum Rückgang der Mangrovenwälder bei. Inzwischen könne man Garnelen, die einst ein Luxusgut waren, sehr günstig kaufen. "Da könnten wir alle einen Beitrag leisten, wenn wir das nicht machen", sagte Schulze.

Sören Christian Reimer (mit dpa)