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Hartz IV : Sozial handeln

Ende des Jahres entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
6 Min

Alexander L. haust im Schrebergarten, eine anonyme Person leistet sich einmal im Monat eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen für drei Euro. "Mein Luxus", sagt die Person. Eine andere duscht nur einmal in der Woche, um Wasser zu sparen. Eine weitere verrät: "Der Trick ist, nur einmal am Tag zu essen."

Das sind vier knappe Auszüge aus einem Leben in Deutschland mit der sozialen Grundsicherung, dem Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt. Die Aussagen hat die Wochenzeitung "Die Zeit" im Frühjahr 2018 als Antwort auf die Frage "Wie können Sie von 416 Euro leben?" von 900 ihrer Leserinnen und Leser erhalten.

416 Euro - so hoch war der monatliche Regelsatz für eine alleinstehende Person 2018. Momentan beträgt er 424 Euro. Dieser Betrag verändert sich regelmäßig, seit das Bundesverfassungsgericht (BVerG) 2010 entschieden hat, dass Hartz IV ein "menschenwürdiges Existenzminimum" gewähren muss. Grundlage dafür ist Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Es war das erste Mal überhaupt, dass das Gericht in Karlsruhe ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum formuliert hat. Die Folge: Die Regelsätze für die damals rund 5,9 Millionen Hartz IV-Bezieher mussten neu berechnet werden. Seitdem werden sie jedes Jahr erhöht. "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt", heißt es im damaligen Urteil.

Karlsruhe ist wieder gefragt Jetzt verhandelt das Karlsruher Gericht wieder über Hartz IV, es geht erneut um die Höhe der Regelsätze, allerdings in umgekehrter Weise: Seit Januar 2019 beraten die Verfassungsrichter darüber, ob Jobcenter Sozialgeldempfänger bestrafen dürfen, wenn sie bestimmte Auflagen der Behörde nicht erfüllen. Wenn die Betroffenen beispielsweise Termine in der Behörde versäumen, immer wieder dorthin zu spät kommen, Arbeitsangebote des Jobcenters ablehnen oder verpassen, sich zu melden. In solchen Fällen kürzen die Sozialgeldbehörden gewöhnlich die Hartz IV-Bezüge.

Im vergangenen Jahr taten die Jobcenter einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit zufolge das in 903.821 Fällen. Rund 441.000 Hartz IV-Bezieher wurden 2018 mindestens ein Mal sanktioniert. Das sind etwa acht Prozent der Anspruchsberechtigten. In 77 Prozent der Fälle war der Grund die Nichteinhaltung von Terminen. Dann darf die Behörde das Sozialgeld drei Monate lang um zehn Prozent kürzen. Wer ein Jobangebot, eine Fortbildung oder eine Schulung verweigert, muss mit einer Kürzung von 30 Prozent rechnen. 2018 kam das rund 96.000 Mal vor.

Wem der aktuelle Regelsatz von 424 Euro um 30 Prozent gekürzt wird, muss mit 296,80 Euro im Monat auskommen. Diese Summe muss reichen für Essen, Kleidung, Sanitärartikel, Tickets für den Öffentlichen Nahverkehr, was ein Mensch so braucht. Wer innerhalb eines Jahres mehrfach negativ auffällt, verliert 60 Prozent seiner Bezüge und hat dann noch 169,60 im Monat zur Verfügung. Mitunter streichen die Behörden das gesamte Arbeitslosengeld II, inklusive der Kosten für Unterkunft und Heizung. Eine Befragte der "Zeit" sagte: "Diese Erniedrigungen vom Jobcenter sind einfach unmenschlich."

Was ist menschlich? Aber wie wird Menschlichkeit definiert? Ist es legitim, wenn ein Mensch eine Zeitlang mit weniger als dem gesetzlich geschützten Existenzminimum leben muss? Gemäß Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Bundesrepublik ein Sozialstaat. Wie stark darf der Staat also durch Sanktionen direkt in das Leben von Menschen eingreifen?

Das wird durchaus unterschiedlich bewertet. Jens Petermann zum Beispiel - Richter am Sozialgericht Gotha in Thüringen, Richter am Thüringer Verfassungsgerichtshof und Politiker, von 2009 bis 2013 saß er für die Linkspartei im Bundestag - hält Sanktionen bei Hartz IV für rechtswidrig. Er begründet das mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.

Das Sozialgericht Gotha und der zuständige Richter Petermann hatten einen Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, was nun dazu führen dürfte, dass sich die Karlsruher Richter mit der Frage auseinandersetzen, ob Jobcenter das Sozialgeld bis unter das Existenzminimum kürzen dürfen.

2016 verhandelte das Gothaer Gericht über einen Fall, bei dem ein Mann zwei Jahre zuvor zunächst einen Job und später eine sogenannte Eingliederungsmaßnahme abgelehnt hatte. Das Jobcenter hatte dem Mann eine Tätigkeit als Lagerarbeiter vermittelt. Diese lehnte er ab, obwohl der Job seinem Lehrberuf entsprach. Aber der Mann wollte im Verkauf arbeiten und hatte das im Jobcenter immer wieder betont. Die Behörde ließ das nicht gelten und kürzte seine Bezüge um 30 Prozent. Als er kurz darauf auch den "Vermittlungsgutschein" für Probearbeiten nicht einlöste, weil er dort wieder nicht im Verkauf arbeiten konnte, wurde ihm das Sozialgeld um 60 Prozent gekürzt.

Für den CDU-Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion, Peter Weiß, ist das ein normaler Vorgang. Weiß sagt: "Zum Fördern gehört auch das Einfordern von eigenen Anstrengungen." Dem schließt sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an. "Der Sozialstaat muss ein Mittel haben, die zumutbare Mitwirkung auch verbindlich einzufordern", findet Heil. Dazu gehören seiner Ansicht nach unter anderem Leistungskürzungen, vor allem auch im Sinne der Gemeinschaft und der Steuerzahler, die Hartz IV schließlich mitfinanzieren würden.

Auch unter Juristen findet sich Zustimmung für Sanktionen. So steht dem Sozialrichter Leandro Valgolio zufolge das verfassungsrechtlich gesicherte Existenzminimum einem "abgestuften Sanktionssystem mit Leistungsabsenkung bei bestimmten Pflichtverletzungen" nicht entgegen. Das "physische Existenzminimum", meint der Jurist am Sozialgericht in Celle, bleibe durch "ergänzende Sachleistungen" gewahrt. Sachleistungen können Gutscheine für Kleidung oder Lebensmittel sein. Wer davon und in welcher Form profitiert, liegt im Ermessen der Behörde.

Ulrich Karpenstein, einer der beiden Anwälte, die die Bundesregierung im aktuellen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten, erscheint die jetzige Regelung verfassungskonform. "Der Staat lässt niemanden verhungern, auch wenn er seinen Mitwirkungspflichten nicht permanent nachkommt. Das wäre unverhältnismäßig", sagt Karpenstein: "Aber der Staat muss reagieren können, wenn eine Person sich willentlich oder wissentlich der Mitwirkung verweigert." Sein Kollege Matthias Kottmann erklärt, dass Leistungskürzungen wirken: Sanktionen führten dazu, dass Anspruchsberechtigte die Regeln befolgen würden und eher einen Job annehmen.

Dem widerspricht das Bündnis "sanktionsfrei", das gegen die Sanktionen kämpft. Bestrafungen seien zynisch und "ein Relikt des autoritären Geistes eines Otto von Bismarck", sagt Claudia Cornelsen, PR-Kommunikatorin des Bündnisses und Co-Autorin des Buches "Was würdest du tun? Wie uns das bedingungslose Grundeinkommen verändert". Ein Minimum könne man nicht reduzieren. Sanktionen würden nicht helfen, im Gegenteil. "Sie sind schädlich. Der Druck macht Angst, demütigt und stigmatisiert. Sanktionen sind Sabotage am sozialen Zusammenhalt." Daraus spreche das Misstrauen, Menschen würden nicht arbeiten wollen oder das nur auf Druck tun.

Positive Anreize Was aber tun, wenn jemand immer wieder zu einem Termin nicht erscheint und sich konsequent weigert zu arbeiten? "Es wird immer Menschen geben, die nicht arbeiten", erklärt Cornelsen: "Aber geht es denn tatsächlich darum, dass Menschen um jeden Preis arbeiten?" Vermögende, die nicht selbst, dafür aber ihr Geld für sich arbeiten ließen, würde man auch nicht in einen Job zwingen. "Hinter den Sanktionen steckt eine antiquierte Erziehungsmaßnahme: Erwachsene auszuquetschen wie eine Zahnpastatube. Aber Menschen sind keine Zahnpastatuben."

Was wäre die Lösung? Cornelsen hat eine Idee: "Positive Anreize setzen." Man könne Betroffene beispielsweise fragen, welche Tätigkeit sie gern ausüben würden. Terminvorladungen könnten "menschlicher" und nicht als neunseitige Drohbriefe gestaltet werden. Auch könnten die Freibeträge beim Zuverdienst zum Sozialgeldsatz erhöht werden. 1,2 Millionen der Hartz IV-Bezieher sind sogenannte Aufstocker, sie arbeiten, manche davon in Vollzeit. Trotzdem reicht ihr Arbeitseinkommen nicht zum Leben. "Aber auch sie werden sanktioniert, wenn sie den Anweisungen des Jobcenters nicht nachkommen", sagt Cornelsen.

In einer juristischen Zusammenfassung der Debatte zu Hartz IV und den Sanktionen kommt die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zu dem Ergebnis, dass es weniger einer rechtlichen Auseinandersetzung dazu bedarf, sondern "Reformbedarf vielmehr in sozialpolitischer Hinsicht" bestehe.

Die Autorin ist Redakteurin bei der "tageszeitung.