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Meinungsfreiheit : Wider allen Tatsachen

Das Grundgesetz erlaubt auch scharfe und überzogene Kritik. Im Einzelfall ist abzuwägen, wann aus freier Rede eine Straftat wird

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
4 Min

"Soldaten sind Mörder." So stand es auf dem Aufkleber am Auto eines Krefelder Studenten. Das "t« in "Soldaten" sah aus wie ein Friedhofskreuz, darunter: eine nachgemachte Unterschrift des Schriftstellers Kurt Tucholsky, von dem dieser Satz ursprünglich stammt. Während des Golfkriegs 1991 fuhr der Student damit durch die Stadt, weshalb er wegen Volksverhetzung und Beleidigung bestraft werden sollte. Der Student wehrte sich und ging bis vors Bundesverfassungsgericht. Das hob seine Verurteilung mit Verweis auf Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes auf. Darin heißt es: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten." Die Entscheidung löste Tumulte im ganzen Land aus.

Das "Soldaten sind Mörder"-Urteil illustriert bis heute, wie weit die Meinungsfreiheit in Deutschland reicht. Die Aufregung von damals wiederholt sich regelmäßig. Auch heute fragen sich viele Menschen, wenn sie einen Kommentar lesen, dem sie nicht zustimmen: "Wie kann diese Redaktion so etwas stehen lassen?" Oder: "Wie kann eine Behörde eine Demonstration mit einer solchen Aussage zulassen?"

Persönliches Werturteil Damals wie heute liegen der Aufregung Missverständnisse über die Meinung und ihre Grenzen zu Grunde. Eine Meinung gibt ein persönliches Werturteil wieder. Das wesentliche Merkmal der Meinung ist: Sie kann nicht "richtig" oder "falsch" sein, man kann sie nicht überprüfen. Das unterscheidet die Meinung von der Tatsachenbehauptung: "Aus Mali wurden im Mai 2019 drei Personen in Deutschland als Flüchtlinge anerkannt" - diese Aussage ist eine Tatsachenbehauptung. Sie lässt sich überprüfen (und ist wahr). Ob jemand das viel oder wenig findet, ist ein subjektives Werturteil, das sich nicht überprüfen lässt.

Weil eine Meinung nicht "richtig" oder "falsch" sein kann, sind vor dem Grundgesetz alle Meinungen gleich. Nur so ist sichergestellt, dass der Staat nicht als Meinungswächter auftritt. Es ist egal, ob ich für meine Meinung 30 Jahre recherchiert und gute Argumente gesammelt habe - oder ob ich sie am Stammtisch vor mich hin lalle. Jeder darf auch eine irrationale Meinung haben; selbst ein emotionaler Ausbruch steht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb nicht entschieden, dass Soldaten strafrechtlich Mörder sind. Die Richter haben nur klargestellt, dass jemand mit einer solchen - alltagssprachlich zugespitzten - Formulierung seine Abneigung gegen das Töten im Krieg ausdrücken darf. Andere mögen das anders sehen. Das Grundgesetz zeichnet das Bild einer pluralistischen Gesellschaft, in der Persönlichkeiten, Lebensentwürfe und Meinungen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Das klingt selbstverständlich, gerät aber immer mehr aus dem Blick. In einer ZEIT/infas-Studie bejahten gerade einmal 52 Prozent der Befragten folgende Aussage: "Man sollte immer auch Meinungen tolerieren, denen man eigentlich nicht zustimmen kann." Das ist ein spektakulär niedriger Wert für eine Demokratie, die sich als offen und vielfältig betrachtet. Deshalb hören wir vom "Riss durch die Gesellschaft", wo es, wie in jedem Land, unterschiedliche Auffassungen zur Zuwanderungspolitik, Umweltfragen oder anderen Themen gibt.

"Wer hat Recht?" bestimmt den Arbeitsalltag der Demokratie, Diskussionen haben ihre Bedeutung. Doch der Fortbestand der Demokratie hängt an einer anderen Frage: Wie gehen wir damit um, dass Meinung keine absolute Wahrheit kennt, dass jeder auf seine Weise Recht hat? Dass wir extrem unterschiedlich denken? Dies ist die Grundfrage einer offenen Gesellschaft.

Hass im Netz Unser Recht lässt dabei nicht zu, dass die Intoleranten die tolerante Gesellschaft ausnutzen, um sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Dass aus einer Meinung ein Angriff wird, etwa eine Beleidigung oder Volksverhetzung. 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist das Internet voll von strafbaren Äußerungen, dass manche sich sorgen, ob man das in den Griff bekommen kann. Der Gesetzgeber hat darauf reagiert. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz verpflichtet seit 2017 soziale Netzwerke, strafbare Inhalte zügig zu löschen, oft innerhalb 24 Stunden. Das Gesetz verfolgt ein richtiges Anliegen und ist trotzdem sehr umstritten. Denn ein Unternehmen ist kein Gericht; es drohen Fehlentscheidungen. "Zur Sicherheit" könnten auch zulässige Meinungen vorschnell verschwinden. Der Staat hat daher selbst verstärkt die Urheber der Beleidigung, Volksverhetzung oder Verleumdung in den Blick genommen: Bei Aktionstagen mit Razzien gegen Kriminalität im Internet überrascht das Bundeskriminalamt inzwischen Internetnutzer, die im Verdacht stehen, sich außerhalb von Artikel 5 zu bewegen. Es beschlagnahmt Computer, Festplatten, Smartphones, Speichersticks. Volksverhetzern droht eine Freiheitsstrafe von drei Monaten bis hin zu fünf Jahren.

Für die kommenden Jahrzehnte bleibt die Herausforderung weiterhin eine doppelte: Es gilt zum einen, die Meinungsfreiheit nach außen, an ihren Grenzen, gegenüber Straftätern zu verteidigen. Im Innern muss sie gegenüber jenen, die es nicht als den vom Grundgesetz gewollten Normalzustand betrachten, dass andere manche Dinge völlig anders sehen, in Schutz genommen werden.

Der Autor ist Jurist und Verfasser des 2018 erschienenen Buches "Meinungsfreiheit! Demokratie für Fortgeschrittene" (S. Fischer).