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Frankreich : Rentenreform per Dekret

Regierung bringt umstrittenes Prestigeprojekt des Präsidenten am Parlament vorbei auf den Weg

09.03.2020
2023-08-30T12:38:13.7200Z
3 Min

Dass der Frankreichs Regierungschef an einem Samstagnachmittag in der Nationalversammlung spricht, ist selten. Als Edouard Philippe am 29. Februar ans Rednerpult des Palais Bourbon trat, war deshalb klar, dass er etwas Wichtiges anzukündigen hatte. "Ich habe beschlossen, die Verantwortung der Regierung für den Gesetzentwurf zu übernehmen, der ein universelles Rentensystem einführt", sagte der 49-Jährige. Er setzte Artikel 49.3 der Verfassung in Kraft, der es der Regierung erlaubt, ein Gesetz per Dekret am Parlament vorbei zu verabschieden. Die zehn Tage zuvor begonnene Parlamentsdebatte über die umstrittene Rentenreform war damit beendet.

41.000 Änderungsanträge hatte die Nationalversammlung ursprünglich zu diskutieren, die meisten davon von der Linkspartei La France Insoumise (LFI). Nach 115 Stunden, in denen die Abgeordneten auch abends und am Wochenende getagt hatten, waren nur sieben der 65 Artikel angenommen worden. "Ich glaube nicht, dass diese Art zu debattieren dem demokratischen Parlamentarismus zur Ehre gereicht", begründete Philippe seine Entscheidung.

Die Opposition warf der Regierung autoritäres Verhalten vor. "Sie werden zum Gespött der zivilisierten demokratischen Welt", kritisierte LFI-Chef Jean-Luc Mélenchon. LFI brachte zusammen mit den Kommunisten und den Sozialisten einen Misstrauensantrag gegen die Regierung ein, der aber nur 91 Stimmen in der 577 Abgeordnete starken Nationalversammlung bekam. Auch ein zweiter Misstrauensantrag der konservativen Republikaner scheiterte. Fraktionschef Damien Abad präsentierte ein eigenes Reformprojekt, das unter anderem die Anhebung des Renteneintrittsalters von derzeit 62 auf 65 Jahre vorsieht.

Die Reform von Präsident Emmanuel Macron, die zu seinen Wahlkampfversprechen gehörte, soll die derzeit 42 Sonderregelungen bei der Rente abschaffen und ein einheitliches System einführen, für das allerdings bereits ein paar Ausnahmen formuliert wurden. Für die künftige Berechnung nach Punkten soll das ganze Berufsleben herangezogen werden und nicht wie bisher die letzten sechs Monate für Beamte und die besten 25 Beitragsjahre für die Beschäftigten der Privatwirtschaft. Zur Finanzierung des milliardenschweren Lochs in den Rentenkassen setzte die Regierung eine Kommission ein, der auch die gemäßigten Gewerkschaften angehören. Radikale Gewerkschaften wie die CGT verließen den Verhandlungstisch. Die Kommission soll bis Ende April Finanzierungsvorschläge vorlegen. Falls nicht, will die Regierung das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre erhöhen.

Nach der Nationalversammlung befasst sich zunächst der Senat mit dem Projekt; dessen Präsident Gérard Larcher kritisierte schon vorab die vielen Grauzonen, die der Entwurf noch aufweise. So sei unter anderem nicht geklärt, wie die Rentenpunkte berechnet werden sollen.

Die Nationalversammlung soll die Reform nach dem Zeitplan der Regierung noch vor der Sommerpause verabschieden. Die Opposition kündigte allerdings schon neue Änderungsanträge an - gut möglich, dass der Premierminister dann wieder auf Artikel 49.3 zurückgreift. Die sozialistische Vorgängerregierung unter Manuel Valls hatte diesen Verfassungstrick mehrmals angewandt, unter anderem 2016 zur Verabschiedung der Arbeitsmarktreform. Valls wollte damals verhindern, dass Abweichler in den eigenen Reihen das Projekt kippen. Auch Philippe erfährt Widerstand aus der Regierungspartei: Nach seiner Entscheidung, Artikel 49.3 umzusetzen, verließen drei Mitglieder von Macrons La République en Marche (LREM) die Fraktion.

Bei den Franzosen ist die Rentenreform unbeliebt: 60 Prozent sind dafür, dass sie zurückgezogen wird. Im Dezember und Januar gingen auf Initiative der Gewerkschaften Hunderttausende gegen das Projekt auf die Straße. In Paris war der Nahverkehr gestört, im Land fuhren kaum Züge; Zugführer profitieren besonders von den noch geltenden Sonderregelungen, da sie bisher schon ab 52 in Rente gehen konnten. Die Streikbewegung ist inzwischen allerdings abgeflaut. An den Demonstrationen Anfang März nahmen nur noch einige tausend Menschen teil.

Die Autorin ist freie Korrespondentin in Paris.