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amri-ausschuss : In der Schreckensnacht

Polizisten schildern, wie sie den Anschlag erlebten und was dann geschah

09.03.2020
2023-08-30T12:38:14.7200Z
4 Min

Die Akustik des Aufpralls, das Knirschen splitternden Holzes, das hat sich Rainer Grape eingeprägt. Ein "extrem lauter Knall" sei zu hören gewesen: "Als ob ein Feuerwerk gezündet wird. Ich habe gedacht, da stürzt ein Haus ein." Für Thomas Bordasch war es ein visueller Eindruck, der von jenem Abend des 19. Dezember 2016 im Gedächtnis haften blieb, der Anblick zahlloser verstreut herumliegender Schuhe.

Der heute 62-jährige pensionierte Polizeihauptkommissar Grape war damals im Abschnitt 25 der für die Bezirke Spandau und Wilmersdorf-Charlottenburg zuständige Berliner Polizeidirektion 2 beschäftigt. Im Dezember 2016 war er als Streifenführer auf dem Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingesetzt. Er saß in einem polizeilichen "Infomobil", um Anzeigen und Beschwerden entgegenzunehmen, patrouillierte regelmäßig durch die Budengassen.

Am 19. hatte sein Dienst um 13 Uhr begonnen und sollte um 21 Uhr enden. Am Nachmittag erschien ein Kirchenrat der Gedächtniskirche und meldete eine Attentatsdrohung gegen die Weihnachtsfeier an Heiligabend. Von 18 bis 19 Uhr beaufsichtigte Grape eine "Armenspeisung" neben seinem Infomobil, brachte später einen auf der Fahrbahn torkelnden Alkoholiker in Sicherheit. Kurz danach krachte der Attentäter Anis Amri mit einem Sattelschlepper in das Weihnachtsmarktgewimmel, und Grapes weiterer Arbeitstag nahm einen unplanmäßigen Verlauf. Erst nachts um 3 Uhr war der Polizist wieder zu Hause.

Trümmer und Tote Kriminalhauptkommissar Bordasch von der Siebten Mordkommission hatte sich schon in den Feierabend verabschiedet, als er telefonisch wieder einbestellt wurde. Ebenso erging es den Polizeiobermeistern T.A. und Y.K. sowie dem Polizeioberkommissar R.D., alle drei im Bereich Aufklärung der für Terrorismus und politische Kriminalität zuständigen Abteilung 6 des Landeskriminalamts tätig. Am späten Abend erhielten sie den Auftrag, jenen Berliner Moscheen einen Besuch abzustatten, die wegen radikalislamischer Umtriebe auffällig waren. Alle fünf Beamten berichteten in der vergangenen Woche dem Amri-Untersuchungsausschuss von ihren Erlebnissen in jener Berliner Schreckensnacht.

Das Infomobil des Polizeihauptkommissars Grape stand auf der Südseite des Breitscheidplatzes. Der Attentäter Amri war von Norden her angefahren. Grape brauchte ein paar Minuten, um sich durchs Gewühl zu arbeiten. Die Beifahrertür des Schwerlasters war geschlossen, die Fahrertür stand offen.

Ein Zeuge sagte aus, der Fahrer sei ausgestiegen und habe sich schnell in Richtung Bahnhof Zoo entfernt. Zwischen Trümmern lagen Verletzte und Tote. Grape riskierte einen Blick ins Innere des Führerhauses, wo es wüst aussah: "Die Windschutzscheibe war kaputt, da war ein halber Weihnachtsbaum drin."

Polnischer Fahrer Zu seiner Überraschung erblickte Grape in der Kabine, über Fahrer und Beifahrersitz ausgestreckt und in eine helle Decke gehüllt, eine menschliche Gestalt: "Das kann doch nicht sein, dass ein Attentäter einen Beifahrer mitnimmt", ging ihm durch den Kopf. Es handelte sich um den polnischen Chauffeur, den Amri erschoss, als er den Schwerlaster kaperte. Grape rüttelte an dem Mann, ohne ein Lebenszeichen festzustellen. Er war vermutlich durch die Wucht des Aufpralls aus der rückwärtigen Schlafkoje in die Kabine geschleudert worden.

Der Mann war groß und schwer und mit den Füßen auf dem Fahrersitz verhakt. Nur mit Hilfe einiger Feuerwehrleute gelang es, ihn aus der Kabine zu holen. Das Gesicht der Leiche sei rötlich gefärbt gewesen, erinnerte sich Grape.

Kein Sprengstoff Als Kriminalhauptkommissar Bordasch gegen 23 Uhr mit fünf polizeilichen "Schadensteams" am Tatort eintraf, war die "grobe Chaosphase" schon vorbei. Die Verletzten waren versorgt und in umliegende Kliniken eingeliefert. Neun Tote lagen noch auf dem Platz. Die Ladung des Lkw war auf versteckten Sprengstoff untersucht und für harmlos befunden worden. Bordasch ordnete an, den Schwerlaster vom Tatort zu entfernen und in einer Halle unterzubringen. Das Risiko, dadurch Befunde zu stören, sagte er dem Ausschuss, habe er in Kauf nehmen müssen.

Wegen der Winterkälte wäre es im Freien nicht möglich gewesen, sensible Hinweise wie Fingerabdrücke, Schmauch- und Geruchsspuren oder DNA zuverlässig zu sichern. Es sei zum damaligen Zeitpunkt ja noch nicht ausgeschlossen gewesen, dass diese Beweismittel in einem Verfahren gegen den Attentäter hätten benötigt werden können. In der Tat fanden sich an den Türen des Führerhauses zwei Fingerabdrücke, die sich Amri zuordnen ließen. Gegen 1.45 Uhr gingen die Spurensicherer auf dem Breitscheidplatz ans Werk.

Eine knappe Dreiviertelstunde zuvor hielt der Streifenwagen mit Polizeiobermeister T.A. und zwei Kollegen vor der Fussilet-Moschee im Stadtteil Moabit. A. und ein weiterer Beamter gingen mit gezogener Waffe in den Hof, um den Hinterausgang des Gebetshauses zu kontrollieren. Die Moschee lag augenscheinlich in tiefem Frieden, Nichts ließ vermuten, dass Amri hier ein und ausgegangen war. Der war als Attentäter indes noch nicht identifiziert.

Moschee kontrolliert Um 5.21 Uhr fuhr erneut ein Streifenwagen an der Fussilet-Moschee vor. Diesmal waren Polizeiobermeister Y.K. und Oberkommissar R.D. dabei. Mehr als drei Stunden lang harrten sie aus. "Wer geht raus? Wer geht rein? Wer fehlt?", so habe der Beobachtungsauftrag gelautet, sagte der Zeuge K. im Ausschuss. Man kannte seine radikalislamischen Pappenheimer. Etwa zehn der rund 110 Berliner Moscheen galten als "relevant" aus Sicht des Staatsschutzes und wurden regelmäßig von Polizeistreifen kontrolliert. Die Fussilet sei "eine der relevantesten" gewesen, meinte der Zeuge K.

Am Tatort gestaltete sich die Entfernung des Lkw schwieriger als erwartet. Gegen 5.45 Uhr traf der Abschleppdienst ein, aber erst um 11 Uhr konnte es losgehen, und um 14.25 erreichte der Transport eine Kaserne mit Halle. Hier begann eine Stunde später die systematische Untersuchung des Fahrzeugs, bei der dann der entscheidende Hinweise auf die Identität des Täters ans Licht kam: eine Duldungsbescheinigung des Ausländeramts in Kleve. Um 16.45 Uhr habe er den Fund weitergemeldet, sagte Bordasch.