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Etat 2020 : Bundesregierung löst die Schuldenbremse

Bundestag erklärt »außergewöhnliche Notsituation« und beschließt Nachtragshaushalt mit 156 Milliarden Euro neuen Schulden

30.03.2020
2023-08-30T12:38:15.7200Z
4 Min

Die schwarze Null ist vorerst Geschichte, der Bundestag hat einen haushaltspolitischen Notfall ausgerufen: Um die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Krise abzufedern, wird der Bund mit dem Nachtragshaushalt für 2020 (19/18100), der vergangene Woche Bundestag und Bundesrat passiert hat, in einem beispiellosen Umfang Schulden machen. Insgesamt 156 Milliarden Euro soll die Nettokreditaufnahme betragen. Das ist fast ein Drittel der geplanten Gesamtausgaben von 484,5 Milliarden Euro.

Die Bundesregierung kann dabei vorerst auf breite Unterstützung aus dem Parlament bauen. Den entsprechenden Vorlagen stimmten neben den Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der AfD auch die Abgeordneten aus den Reihen von FDP, Linken und Grünen zu.

Schuldenregel Eigentlich hatte der im vergangenen November beschlossene Etat für dieses Jahr Ausgaben in Höhe von 362 Milliarden Euro vorgesehen - ohne neue Schulden. Schon seit 2014 hatte der Bund auf eine Nettokreditaufnahme verzichtet und stattdessen in den vergangenen Jahren satte Überschüsse verzeichnet.

Nun sind die Schulden-Regelungen des Artikels 115 des Grundgesetzes innerhalb weniger Wochen relevant geworden: Grundsätzlich ist es danach dem Bund erlaubt, neue Kredite in Höhe von bis zu 0,35 Prozent des Bruttoinlandproduktes des vorangegangenen Jahres aufzunehmen. Berücksichtigt werden dabei auch konjunkturelle Erwartungen. So berechnete das Bundesfinanzministerium für den ursprünglichen Haushalt 2020 die zulässige Nettokreditaufnahme mit 12,5 Milliarden Euro. Der Haushalt sah keine Nettokreditaufnahme vor, einzig die Finanzierungssalden der Sondervermögen schlugen mit rund 5,9 Milliarden Euro zu Buche. Der Nachtragshaushalt führt nun deutlich dramatischere Zahlen an: Mit dem erwarteten Konjunktureinbruch wäre eine Nettokreditaufnahme - inklusive der Finanzierungssalden - bis zu 62,1 Milliarden Euro zulässig, rechnen die Beamten aus dem Bundesfinanzministerium vor.

Das reicht aber nicht: 122 Milliarden Euro will die Bundesregierung zusätzlich ausgeben, um etwa Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige mit 50 Milliarden Euro zu unterstützen (siehe Text oben). Auch eine sogenannte Globale Mehrausgabe in Höhe von 55 Milliarden Euro für weitere Maßnahmen im Kampf gegen die Corona steht im Nachtragshaushalt, hinzukommen milliardenschwere Mehrausgaben für Sozialleistungen. Zudem brechen die Einnahmen ein: Der Bund rechnet in diesem Jahr mit 33,5 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen. Das ist ein Minus von 9,5 Prozent gegenüber dem ursprünglichen Soll. Die Vorlage aus dem Haus von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) taxiert folglich eine Überschreitung der zulässigen Nettokreditaufnahme um weitere 99,8 Milliarden Euro.

Auch diese Situation ist im Grundgesetz vorgesehen: In "außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen" kann der Bundestag mit Kanzlermehrheit eine Erhöhung der Kreditobergrenze beschließen. Genau das taten die Abgeordneten auf Antrag von Union und SPD vergangene Woche. Der Antrag sieht - wie vom Grundgesetz gefordert - einen Tilgungsplan vor. Die über die Regelgrenze hinausgehenden knapp 100 Milliarden Euro sollen ab 2023 innerhalb von zwanzig Jahren getilgt werden.

Nicht mittellos Achim Post (SPD) nannte die Vorhaben in der Debatte "nichts weniger als ein wirtschaftliches und soziales Solidaritätsprogramm für unser Land". Die Lage sei schwierig, der Staat aber nicht mittellos: "Wir erleben eine absolute Ausnahmesituation, und genau hierfür sieht das Grundgesetz Ausnahmeregeln vor", sagte der SPD-Fraktionsvize. Das betonte auch der Haushalts-Experte der Union, Eckhardt Rehberg (CDU): "Die Väter der Föderalismusreform, die Artikel 115 Grundgesetz entworfen haben, haben ihn genau für so eine Situation entworfen." Es sei daher richtig gewesen, dass sich die Union in der Vergangenheit stets dagegen gewehrt habe, die schwarze Null aufzugeben oder die Schuldenbremse zu umgehen.

Für die Liberalen lobte Christian Dürr die Grundgesetz-Regelung ebenfalls: "Allen Unkenrufen der letzten Monate und Jahre zum Trotz: Diese Schuldenbremse funktioniert auch in Krisenzeiten." Der FDP-Fraktionsvize mahnte die Koalition, sich nun auf die Bekämpfung der Krise zu konzentrieren. Auf teure Projekte wie die von den Liberalen ohnehin ungeliebte Grundrente müsse verzichtet werden.

Peter Boehringer (AfD) kritisierte- wie auch Dürr -, dass der Bund neue Kreditermächtigungen ausbringe statt die ebenfalls als Kreditermächtigung fungierende, sogenannte Asylrücklage zu nutzen. Zudem warf er dem Finanzminister vor, die Grundannahmen des Rettungspakets nicht transparent zu machen. Auch stellte sich der Vorsitzende des Haushaltsausschusses gegen die Idee von "Corona-Bonds", um im Fall der Fälle strauchelnden Staaten der Eurozone zu helfen.

Eine Lanze für die europäische Solidarität brach hingegen Grünen-Haushälterin Anja Hajduk. Sie verwies auf einen Vorschlag ihrer Fraktion, der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu ermöglichen, die italienische Förderbank zu unterstützen. Zudem forderte Hajduk ein milliardenschweres Signal der internationalen Gemeinschaft an die ärmsten Länder, dass auch sie unterstützt werden.

Gesine Lötzsch (Die Linke) mahnte ebenfalls einen Blick über die eigenen Grenzen an. Die Krise könne zu einer "Sternstunde der europäischen Solidarität" werden. Zudem betonte sie, dass die Zustimmung ihrer Fraktion zu den Vorhaben nicht als "Freibrief für die Bundesregierung" zu verstehen sei.

Sehr brüchige Eckwerte Einig waren sich die Redner, dass es vermutlich nicht das letzte Rettungspaket gewesen sein wird, das zu beschließen ist. Ob sich die Anfang März beschlossenen Eckwerte der Bundesregierung für die kommenden Haushaltsjahre (siehe Grafik) - jeweils ohne Neuverschuldung - halten lassen, ist aktuell sehr ungewiss. Sören Christian Reimer