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Porträt : Der Weltkönig

Weil er den Briten nichts verbieten wollte, zögerte Boris Johnson lange in der Corona-Krise. Die Wähler werden darüber irgendwann ihr Urteil abgeben

14.04.2020
2023-08-30T12:38:15.7200Z
4 Min

Weit über das Vereinigte Königreich hinaus versetzte die Eilmeldung, die am Abend des 5. April über die Medien kam, viele Menschen in Schrecken. Der britische Premierminister war wegen seiner schweren Covid-19-Erkrankung in ein Londoner Krankenhaus eingeliefert worden. 24 Stunden später verlegten ihn die Ärzte auf die Intensivstation von St. Thomas, weil er unter Atemnot litt. Kurz vor Ostern wurde sein Gesundheitszustand als "stabil" beschrieben.

In künftigen Biografien von Boris Johnson wird seine Erkrankung am Coronavirus eines der eindrücklichsten Kapitel sein in einer Lebensgeschichte, die auch so eindeutig zu den ungewöhnlichen Viten eines hochrangigen Politikers zählt. Der 55-Jährige gilt als einer der bekanntesten Vertreter seiner Zunft, weit über die britischen Grenzen hinaus. Und das schon lange bevor er im Juli 2019 endlich dort ankam, wo er immer hinwollte: in der Downing Street Nummer zehn. Seiner Schwester Rachel zufolge beantwortete der kleine Boris schon als Vierjähriger die Frage nach seinem Berufswunsch mit "Weltkönig".

Dass Johnson ein großer Bewunderer von Winston Churchill ist, weiß man nicht erst seit der 2014 von ihm verfassten Biografie über das Vorbild. Die Corona-Krise gilt als Johnsons "Churchill-Moment". Ob der Vergleich der Herausforderung einer Pandemie in Friedenszeiten mit der Kriegsgefahr durch Hitler-Deutschland 1940 angebracht ist, bleibt eine subjektive Einschätzung. Aber so wie Churchill im Mai vor 80 Jahren zwischen Appeasement und Konfrontation entscheiden musste, so war auch Johnson im März 2020 zu einer Richtungsentscheidung gezwungen. "Er hatte den riesigen und beinahe rücksichtslosen moralischen Mut zu erkennen, dass der Kampf schrecklich werden würde, aber dass sich zu ergeben schlimmer wäre. Er hatte Recht", schreibt Johnson in erwähnter Biografie über die entscheidende Sitzung von Churchills "War Cabinet".

Churchill wurde gleich nach Kriegsende bei der ersten Unterhauswahl im Juli 1945 abgewählt. Auch bei Johnson werden die Wähler am Ende das Urteil fällen, ob er bei der Bewältigung der Pandemie zu zögerlich war. Kritiker meinen, dass er den geografischen Vorteil der Britischen Inseln, zeitlich einige Wochen hinter der Corona-Pandemie auf dem Kontinent zu liegen, fahrlässig verspielt habe. Noch am 19. März verkündete der Tory-Parteichef in einer Pressekonferenz in der Downing Street scherzend, "das Coronavirus kann bald seine Taschen packen". Die Bürger sollten weiter Händewaschen und möglichst von zu Hause arbeiten. Vier Tage später leitete seine Regierung umfangreiche Ausgangsbeschränkungen ein, nachdem eine Studie bei Weiterführung dieser laxen Maßnahmen bis zu 250.000 britische Corona-Tote prognostiziert hatte.

Überzeugter Liberaler "Boris ist kein Anarchist, aber er ist zuallererst und grundsätzlich ein Liberaler", sagt Guto Harri, Johnsons langjähriger Kommunikationschef im Bürgermeisteramt von London. "Letztlich hat er bewiesen, dass er schwerwiegende Restriktionen für den Alltag der Leute durchsetzen kann. Aber das entspricht nicht seinem Naturell."

In "City Hall" war Johnson von 2008 bis 2016 Hausherr. Vor seiner Wahl hatten viele Beobachter dem als blonden "Snob" verschrienen Tory, der in seinen leichtfüßigen "Telegraph"-Kolumnen auch vor rassistischen Kommentaren nicht scheute, keine Chance gegen den Labour-Bürgermeister Ken Livingstone gegeben. Johnson aber gewann, und wurde das exzentrische und weltoffene Gesicht der Metropole.

Vom liberalen Londoner Bürgermeister wechselte Johnson 2016 mühelos in das Pro-Brexit-Lager. Es ist keine Unterstellung, dass er sich mit der Führung dieser Kampagne eine Chance auf die große Karriere in der Konservativen Partei versprach - was drei Jahre später genau so kommen sollte. Sowohl sein Vater Stanley, ein ehemaliger EU-Beamter, als auch seine Schwester Rachel und sein Bruder Jo setzten sich derweil vehement für den Verbleib in der Europäischen Union ein. Der Johnson-Clan wurde mithin ein Spiegelbild der gespaltenen britischen Nation, die noch viele Jahre über den Brexit streiten wird. Möglicherweise wird Johnson irgendwann sogar den Bruch des Vereinigten Königreichs verantworten müssen, sollten sich Schottland und Nordirland tatsächlich abspalten.

Für die nähere Zukunft aber ist der EU-Austritt Nebensache. Eton- und Oxford-Absolvent Johnson könnte die Übergangsphase womöglich sogar wegen der Corona-Krise über das Jahresende 2020 hinaus verlängern. Zunächst muss der Vater von demnächst sechs Kindern versuchen, die absehbar gravierenden Folgen für sein Land einzudämmen. Parlamentarisch zumindest hat er dazu Vollmacht. Bei den Unterhauswahlen am 12. Dezember 2019 hatten die Konservativen 80 Sitze Mehrheit errungen, ihr bestes Ergebnis seit 1987.

Große Versprechen Seinen Sieg hatte Johnson einer für seine Partei ganz neuen Anhängerschaft zu verdanken - den einstigen Labour-Stammwählern im Norden Englands. Seine Regierung werde ein "people's government" sein, eine Regierung aller Leute, versprach er nach seinem Triumph. Das Vertrauen der neuen Wähler wollte Johnson mit riesigen Investitionen und damit neuen Arbeitsplätzen in lange Zeit vernachlässigten Teilen des Königreichs abgelten. Ganz untypisch für einen Tory-Premier hatte er schon vor der Corona-Krise staatliche Eingriffe in Unternehmen angekündigt und gegen den Protest der Parteifreunde Milliardengelder für Infrastrukturprojekte durchgesetzt, die langfristig Regionen außerhalb Londons zugutekommen sollen. Selbst die Erhöhung von Steuern, für wahre britische Konservative eine Sünde, schloss er nicht aus.

Die Corona-Pandemie hat hinter jegliche Pläne ein großes Fragezeichen gesetzt. In den Tagen vor Ostern 2020 galt für die ganze Nation und besonders für Johnson, dessen Verlobte Carrie Symonds im Frühsommer das erste gemeinsame Kind erwartet, vor allem eines: Gesund zu werden, gesund zu bleiben.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.