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EUROPÄISCHE UNION : 28 minus 1

Der Abschied Großbritanniens verändert die Gemeinschaft. Die Konsequenzen sind aber bisher weniger dramatisch als zunächst befürchtet

14.04.2020
2023-08-30T12:38:15.7200Z
4 Min

Es ging nicht um Großbritannien, und dennoch spielte der Brexit bei der Videokonferenz unterschwellig eine Rolle. Ende März entbrannte zwischen den Finanzministern der Eurozone eine heftige Diskussion um mangelnde Solidarität zwischen Nord- und Südeuropa. Italien drängte angesichts der Corona-Krise auf Hilfe, die der niederländische Finanzminister Wopke Hoekstra abbürstete mit dem Hinweis, Rom hätte in den vergangenen Jahren eben besser wirtschaften sollen.

Hier brach nicht nur ein alter Streit auf, wie er während der Eurokrise schon geführt worden war. Bei der Diskussion der Minister übernahmen die Niederlande die Rolle des Landes, das auf Haushaltsdisziplin setzt - eine Rolle, die in der EU über Jahrzehnte Großbritannien inne hatte.

Dessen Abschied aus der Europäischen Union verändert vieles in der Gemeinschaft. Mit Großbritannien hat der drittgrößte Mitgliedsstaat die Union verlassen, der für wirtschaftlichen Liberalismus und Pragmatik stand. Die Union muss sich neu sortieren, aber anders als vor allem von kleineren Ländern erwartet dominieren bisher Deutschland und Frankreich nicht das Geschehen. Die Niederlande hatten als Gegengewicht sogar eine Gruppe gleichgesinnter Länder um sich geschart und die "Hanse-Liga" gegründet. Aber noch zeigt sich nicht, dass die beiden größten Länder die Führung übernommen hätten.

Als Großbritannien offiziell am 31. Januar aus der EU austrat, gab es in Brüssel durchaus Beamte, die darauf erleichtert reagierten. Ein schwieriger Partner hatte die Union verlassen. Der große Einschnitt blieb allerdings aus. London ist bei den Sitzungen von Arbeitsgruppen, Ministern und Regierungschefs im Rat der EU nicht mehr vertreten. Aber in Großbritannien gilt in der Übergangsphase, die nach jetzigem Kenntnisstand bis zum Jahresende dauert, weiterhin EU-Recht. Und in der EU-Kommission sind weiterhin britische Beamte beschäftigt, die indes nicht mehr mit einer großen Karriere rechnen können, weil ihnen die Unterstützung ihrer Heimat fehlt.

Schleichender Abschied Großbritanniens Abschied von der EU hatte sich über eine lange Zeit schleichend vollzogen. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 spielte die britische Regierung in den großen Debatten auf EU-Ebene keine große Rolle mehr. "Damit verschärfte sich ein Trend, der schon vorher begonnen hatte", sagt ein erfahrener EU-Beamter. Die Vollendung des Binnenmarktes in den 1990er Jahren war ein Projekt, das Großbritannien ebenso mitgetragen hat wie die Osterweiterung 2004. In der Finanzkrise und der folgenden Eurokrise nahm Großbritannien als Nicht-Euroland dagegen die Rolle des Zuschauers ein. Die Eurokrise schien manchen auf der Insel geradezu ein Beweis für die Mängel der EU, deren Kernprojekt Währungsunion nur in dramatischen Nachtsitzungen gerettet werden konnte.

Der Brexit hat keine Nachahmer gefunden - anders als zunächst befürchtet. Er könne "nicht ausschließen, dass der britische Austritt Lust auf mehr machen würde in anderen Ländern", sagte der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker kurz vor dem britischen Referendum im Juni 2016. Doch die schwierigen Austrittsverhandlungen haben EU-Mitgliedsstaaten gerade die Vorteile der EU vor Augen geführt - nicht nur die Rückflüsse aus dem EU-Haushalt, sondern auch den Zugang zum Binnenmarkt, die Teilnahme am Erasmus-Austauschprogramm für Studenten und Auszubildende oder etwa die gemeinsame Medikamentenzulassung. Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein spart Geld. "Der Brexit ist das beste Folgenabschätzungsprogramm und gute Werbung für die EU", stellt ein hoher EU-Beamter fest.

Der EU geht mit dem Austritt des drittgrößten Mitgliedsstaates freilich auch einiges verloren. Zum Beispiel ein Land mit Spitzenforschung. Kein anderes Land der Union erhielt so viel EU-Förderung für Forschung, was an der Exzellenz der eingereichten Projekte lag. Britische Universitäten waren ein beliebtes Ziel von Erasmus-Studenten. Beides ließe sich über eine Kooperation beibehalten. Die müsste aber erst noch ausgehandelt werden.

Der EU kommt auch Expertise im Bereich Außenpolitik abhanden. Großbritanniens Diplomaten genießen traditionell einen sehr guten Ruf. Als Land mit permanentem Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügt das Vereinigte Königreich in der Außenpolitik über Gewicht. Andererseits hat London die Zusammenarbeit in der EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung in der Vergangenheit systematisch blockiert. Eine verstärkte Kooperation wird ohne die Briten künftig einfacher sein. Dabei will Frankreichs Präsident Emmanuel Macron freilich von Großbritanniens Expertise weiter profitieren. Er hat einen neuen Europäischen Sicherheitsrat vorgeschlagen, der die Insel in Zukunft einbinden würde.

Streit um Rabatt Der Brexit hat für die EU auch finanzielle Folgen. Großbritannien gehörte zu den Nettozahlern; künftig fehlt der britische Beitrag in Höhe von rund neun Milliarden Euro netto im Jahr. Die Lücke war ein Grund, warum es den anderen EU-Mitgliedsstaaten bisher nicht gelungen ist, sich auf einen Mittelfristigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 zu verständigen. Auch auf die Struktur des EU-Haushalts hat der Brexit Auswirkungen. Die Briten erhielten bisher einen Rabatt auf ihren Beitrag, weil sie überdurchschnittlich geringe Rückflüsse verzeichneten. Weitere Länder wie Deutschland bekamen ebenfalls einen Rabatt, der nun entfallen soll. Die Bundesregierung wehrt sich dagegen, weil dadurch die Überweisungen nach Brüssel stark ansteigen würden.

Als sich die Briten für den Austritt entschieden, saß der Schock in Brüssel so tief, dass von einem Neustart die Rede war. Auf einem Sondergipfel im September 2016 wurde ein Fahrplan für eine Erneuerung der Union beschlossen, der freilich nie die erhoffte Dynamik entfaltete. Auch wenn der Brexit die 27 verbliebenen Mitgliedsstaaten nicht so spaltete, wie das manche befürchtet hatten, reichte die Kraft nicht für Grundsatzdebatten. Das Tagesgeschäft nahm schlicht zu viel Aufmerksamkeit in Anspruch. "Die EU sollte die Gelegenheit nutzen, um die Gründe des britischen Austritts zu hinterfragen, und sich entsprechend reformieren", mahnt Rosa Balfour, Direktorin der Denkfabrik Carnegie Europe. Die Corona-Krise macht es nun allerdings noch unwahrscheinlicher, dass solche Debatten stattfinden werden. Denn die EU wird sich auf absehbare Zeit im Krisenmodus befinden.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Wirtschaftswoche" in Brüssel.