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KONJUNKTUR : Ungünstige Ausgangslage bei bedeckten Aussichten

Die britische Wirtschaft hat schon glanzvollere Zeiten erlebt als gegenwärtig. Dabei stehen die wahren Herausforderungen noch bevor

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
4 Min

Mit dem Brexit hat ein wirtschaftliches Schwergewicht die Europäische Union verlassen: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt zählte Großbritannien in etwa gleichauf mit Frankreich und hinter Deutschland zu den drei führenden Wirtschaftsnationen des europäischen Staatenbundes. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die britische Wirtschaft im Schnitt jährlich um 1,9 Prozent gewachsen, die von Deutschland und Frankreich lediglich um 1,1 Prozent.

Ganz so einfach ist es allerdings nicht: So war das kräftigere Wachstum auf der Insel auch dem deutlichen Bevölkerungszuwachs geschuldet. Letztlich relevant für den Wohlstand des einzelnen Bürgers ist die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner und das hat sich etwa gleichauf mit dem deutschen entwickelt. Das Bild vom dynamischen Königreich wird dadurch zumindest relativiert.

Die Corona-Krise, die jetzt auch in Großbritannien die Staatsfinanzen stark belastet, ist für das Land besonders brisant. Denn es ist wegen seines extrem hohen Leistungsbilanzdefizits und der wirtschaftlichen Ungewissheit durch den Brexit verwundbar: Sollten ausländische Investoren das Vertrauen verlieren, droht im Extremfall eine Zahlungsbilanzkrise. Dass die Märkte skeptisch sind zeigt der Wechselkurs des britischen Pfunds, der Mitte März gegenüber dem Dollar zeitweise auf den tiefsten Stand seit 1985 gefallen ist.

Gefälle Schon seit langem zu schaffen macht Großbritannien das enorme wirtschaftliche Gefälle zwischen der alles dominierenden Hauptstadt London und ihrem Umland einerseits und weiten Teilen des restlichen Landes andererseits. Die Metropole an der Themse hat seit den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine neue Blüte erlebt. Auf London entfällt mittlerweile mehr als ein Fünftel der gesamten Wirtschaftsleistung Großbritanniens.

Faktisch zerfällt das Land deshalb in zwei sehr unterschiedliche Volkswirtschaften: Eine prosperierende und wachstumsstarke, die aus dem Südosten Englands rund um London sowie einigen wenigen anderen Wohlstandsoasen besteht - und eine Niedriglohn-Wirtschaft draußen im Land. Cornwall etwa ist zwar eine sehr schöne Region, um dort Urlaub zu machen, zählt aber zu den ärmsten Grafschaften des Vereinigten Königreichs. Der Norden und Teile der Mitte Englands haben sich bis heute nicht von den Folgen der Deindustrialisierung erholt. An der Küste gelten Seebäder und Hafenstädte wie Blackpool und Liverpool seit Jahrzehnten als soziale Brennpunkte.

Die Wohlstandslücke zwischen London und dem Rest des Landes zumindest ein Stück weit zu schließen - daran haben sich Generationen britischer Politiker abgearbeitet. Doch seit der Weltfinanzkrise vor zwölf Jahren sind die Hauptstadt und der große Rest des Königreichs eher noch weiter auseinandergedriftet. Während sich London schnell von dem Rückschlag des Finanzbebens erholt hat, leiden andere Regionen noch immer unter den Nachwirkungen. Der harte Sparkurs, den die Regierung des damaligen Premierministers David Cameron ab 2010 einschlug, vertiefte den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Graben zusätzlich.

Eine Folge der wirtschaftlichen Zweiteilung ist die im internationalen Vergleich schwache Arbeitsproduktivität: Je Arbeitsstunde schaffen britische Arbeitskräfte deutlich weniger Wertschöpfung als Arbeiter etwa in Deutschland und Frankreich. Das Problem daran: Auf lange Sicht ist die Produktivität die wichtigste Determinante für die Wohlstandsentwicklung. Es fehlt an Investitionen in den Unternehmen - und seit dem Brexit-Referendum im Sommer 2016 haben viele Betriebe diese noch zurückgefahren, weil ihnen die Zukunftsaussichten zu ungewiss erschienen.

Grundkonsens Mit dem EU-Austritt zeichnet sich auch eine historische Wende in der britischen Wirtschaftspolitik ab: Seit der stark prägenden Regierungszeit von Margaret Thatcher zwischen 1979 und 1990 herrschte in Großbritannien ein parteiübergreifender wirtschaftsliberaler Grundkonsens, der jedoch spätestens seit dem EU-Referendum vor vier Jahren immer mehr zerbröckelt ist. Der konservative Premier Boris Johnson hat bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst zahlreiche Stimmen aus der Arbeiterschaft gewonnen und damit der oppositionellen Labour Party eine schwere Niederlage beigebracht.

Johnson hat den traditionell wirtschaftsfreundlichen Kurs der britischen Konservativen geändert: Eine eigentlich geplante weitere Senkung der Unternehmenssteuern wurde ausgesetzt um das notleidende Gesundheitssystem zu stützen. Auch eine Sondersteuer für Digitalunternehmen, die sich vor allem gegen amerikanische Konzerne richtet, will Johnson einführen - und riskiert damit Ärger mit US-Präsident Donald Trump.

Vor allem aber ignoriert Johnson mit dem von ihm favorisierten harten und kompromisslosen Brexit die Wünsche von weiten Teilen der britischen Wirtschaft. Es ist vielmehr mit neuen Handelshürden am Ärmelkanal zu rechnen - und diese werden Großbritannien aller Voraussicht nach stärker schaden als die EU. Der Premier lehnt eine Zollunion mit dem Staatenbund ebenso ab wie eine weitere Mitgliedschaft im Europäischen Binnenmarkt nach dem Vorbild Norwegens.

Sogar mit dem Abbruch der Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen hat der Brite gedroht: Die Handelsbeziehungen zu den europäischen Nachbarn würden damit auf die Mindeststandards der Welthandelsorganisation WTO zurückgeworfen. Dabei entfällt rund die Hälfte des britischen Außenhandels auf die EU-Staaten. Europa ist auch nach dem Brexit der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Briten.