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Gerechtigkeit : Genosse Johnson

Großbritannien driftet auseinander, alte und neue Klassenkonflikte spalten das Vereinigte Königreich. Boris Johnson weiß das für sich zu nutzen

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
6 Min

Rishi Sunak hat eine Eliteschule besucht und in Oxford und Stanford studiert. Er hat eine Milliardärstochter geheiratet, für einen Hedgefonds gearbeitet und ist mit bloß 39 Jahren im Februar britischer Schatzkanzler geworden. Sein privatgeschulter und oxfordstudierter Parteichef und Premierminister Boris Johnson ist ein entfernter Verwandter der Queen. Doch Rishi Sunak sagt: "Wir, die Konservativen, sind die wahre Partei der Arbeiter."

Paradoxerweise hat er nicht Unrecht. "Viele traditionelle politische Gewissheiten in Großbritannien stimmen nicht mehr", sagt Russell Foster, der britische Politik am King's College London unterrichtet. Sunak und besonders Johnson wüsste das für sich zu nutzen. Im Gegensatz zur oppositionellen Labourpartei hätte er begriffen, dass viele alte Klassentrennlinien hinfällig seien, dass neue Regeln gelten. Wie die Parlamentswahlen im Dezember gezeigt hätten, sei keinesfalls mehr klar, dass Eliten und obere Mittelklasse konservativ und Arbeiter und die "Unterschicht" Labour wählten - eher im Gegenteil.

Das Thema Klasse dominiert den politischen Diskurs im standesbewussten Großbritannien gerade deshalb wieder. "Die Klassenverhältnisse sind in die gesellschaftliche Diskussion zurückgekehrt", sagt Sam Friedman, Soziologe an der London School of Economics und Co-Autor des Buches "The Class Ceiling: Why it Pays to be Privileged". Und in ihrer neuen Form schicken sie sich an, die Politik Großbritanniens auf Jahre zu bestimmen - kein Wunder, schließlich ist das Vereinigte Königreich derzeit auch abseits des Brexits gespalten wie selten zuvor.

So wächst die wirtschaftliche Ungleichheit im Land so stark, dass der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton im vergangenen Juli warnte, Großbritannien drohe eine der ungleichsten Gesellschaften der Welt zu werden. Wenige Monate zuvor hatte der UN-Sonderbeobachter für extreme Armut und Menschenrechte, Philip Alston, nach einer zweiwöchigen Forschungsreise durch das Vereinigte Königreich berichtet, dass das in den Nachkriegsjahren geknüpfte soziale Netz, "absichtlich entfernt und durch ein schroffes und gleichgültiges Ethos ersetzt wurde". Theresa Mays damalige konservative Regierung tat das als "schwer zu glauben" ab. Der Sozialwissenschaftler und Menschenrechtsexperte Koldo Casla von der Universität Essex hingegen sagt: "Jede Armutskennzahl, die ich kenne, hat sich in den vergangenen zehn Jahren verschlechtert."

Strenge Sparpolitik In der Tat hat das Institute for Fiscal Studies errechnet, dass 58 Prozent derer, die in relativer Armut leben, mit mindestens einer Person zusammenwohnen, die einer bezahlten Arbeit nachgeht. Vor 25 Jahren waren es noch weniger als 40 Prozent. Generell sei der Lebensstandard vieler gesunken. Schwarze und britisch-asiatische Haushalte hätten besonders starke Einschnitte hinnehmen müssen, warnte der Anti-Rassismus-Thinktank Runnymede Trust bereits 2017.

Der Grund für die Misere liegt nicht zuletzt in der strengen Sparpolitik, die Johnsons konservative Amtsvorgänger dem Land verordnet hatten. David Camerons und Mays Regierungen reduzierten Sozialleistungen um ein Fünftel, brachten das staatliche Gesundheitssystem auf die Intensivstation und kürzten selbst das Budget der Polizei um mehr als 20 Prozent. Besonders für die ärmeren Schichten und die ehemaligen britischen Industrieregionen hatte das einschneidende Folgen. "Die Austeritätspolitik hat Schaden für eine ganze Generation angerichtet", sagt Casla.

Auch könne man die neuen Klassenverhältnisse teilweise so erklären, sagt Politologe Foster. Die Kürzungen seien Teil einer jahrzehntelangen parteiübergreifenden Politik, die Finanzen und politisches Interesse aus den Provinzen abgezogen und auf London konzentriert hätte. Besonders die alten, ehemals stolzen Industriestädte in Nordengland wie Sunderland oder Newcastle seien jahrelang vernachlässigt worden - die Unzufriedenheit und der Trotz ihrer Einwohner seien unterdes gestiegen.

Eigentlich ideale Bedingungen für die Labourpartei, die dort ihre Basis hat. Doch man habe sich ebenfalls auf das prosperierende London konzentriert und sich von einem Sprachrohr der working class zu einer Partei der urbanen intellektuellen Mittelklasse gewandelt, so Foster. Und im Gegensatz zu den Konservativen hätte Labour das Brexitvotum, diesen Denkzettel aus den Provinzen, nicht verstanden - auch vier Jahre später nicht. Während Boris Johnson sich also im Wahlkampf im vergangenen Herbst durch die Lande kumpelte, Brüssel lautstark drohte und eine goldene Zukunft für den Norden herbeibeschwor, fand der damalige sozialistische Labourchef Jeremy Corbyn keine konkrete Brexit-Position, präsentierte nüchtern ökonomische Prognosen, betonte die britische Weltoffenheit und versprach Kompromisse. Dabei ging es um etwas anderes, sagt Foster: "Regionale Identität, Patriotismus, Emotionen, wir im Norden gegen die in London - Kultur statt Ökonomie." Labour hingegen habe Politik für eine Klasse gemacht, die es so nicht gebe - zumindest nicht in ihren Stammlanden. Und so bröckelte der Red Wall aus nordenglischen Wahlkreisen, die generationenlang so zuverlässig für Labour gestimmt hatten, dass manche scherzten, dort könnten sie eine Labour-Rose in eine Kartoffel stecken und sie würde gewählt werden.

Doch diesmal gewann mit Johnson "die Verkörperung aller Eigenschaften der britischen Elite", wie es der Soziologe Friedman formuliert. Denn obwohl "Boris" erfolgreich den Mann des Volkes gibt, working-class-Slang in seine Reden einbaut und wirkt als könnte man ihn nach der Schicht am Band noch auf ein Pint im Pub treffen, ist er das Paradebeispiel dafür, dass das traditionelle britische Klassensystem bei aller Bedeutung neuer politischer Identitäten gut in Schuss ist.

So sind die neun als Clarendon Schools bekannten Eliteschulen wie Johnsons altes Internat Eton noch heute so teure wie sichere Wege in die politische, mediale und kulturelle Führungsriege des Landes. "Ihre Macht ist unfassbar beständig", sagt Friedman. Sie sind auch Eintrittskarten zu den Eliteuniversitäten Cambridge und Oxford. Zusammen haben sie 42 aller 63 Premierminister gestellt. Von den 15 Regierungschefs seit 1945 studierten elf in Oxford, darunter Johnson, May und Cameron sowie Tony Blair und Margaret Thatcher.

Geringere Verdienste Dass ein Abschluss so viel zählt, liegt laut Friedman nicht direkt an der Ausbildung, sondern an den sogenannten behavioural codes der höheren Klassen wie dem distinguierte Akzent, gediegenen Umgangsformen oder einem gewissen hochkulturellen Kanon, die in Internaten und Unis verstärkt und erlernt würden. "In Großbritannien werden die Klassenzugehörigkeit und entsprechende Verhaltensweisen oft mit echten Meriten gleichgesetzt", sagt Friedman. Dazu komme das unschlagbare Netzwerk, dass sich Privatschüler und Elitestudenten aufbauten. Das mache es selbst für gut ausgebildete Angehörige der working class schwierig, in Topjobs vorzudringen. Und auch wenn sie eine Stelle als Arzt, Anwalt oder Journalist ergattern, verdienen sie durchschnittlich 16 Prozent weniger als ihr Mittelklassependant, haben Friedman und sein Kollege Daniel Laurison errechnet. Frauen aus der working class verdienten in hohen Positionen sogar 19.000 Pfund pro Jahr weniger als privilegierte Männer, nicht-weiße Frauen noch weniger.

Johnson, der gerade daraus Kapital schlägt, dass er weiß, wann er seine Eliten-Codes unterdrücken und wann ausspielen muss, muss nun zeigen, dass er das Spiel mit den Klassen auf lange Sicht beherrscht. Denn viele neue Wähler sind pessimistisch, was ihre Zukunftsaussichten angeht. Laut einer aktuellen Studie der Kommission zur sozialen Mobilität des Bildungsministeriums glauben knapp 40 Prozent der Briten, dass gesellschaftlicher Aufstieg schwieriger geworden sei. Nicht einmal zwei von fünf Befragten fanden, dass es ihnen heute besser gehe als noch vor zehn Jahren.

Da ist es nur folgerichtig, dass Schatzkanzler Sunak Anfang März ein beispielloses Milliardeninvestitionsprogramm in Sozialsysteme und Infrastruktur ankündigte, noch bevor das Coronavirus jegliche Budgetplanungen über den Haufen warf. "Damit will Johnson zeigen, dass er seine Versprechen an den Red Wall erfüllt", sagt Politologe Foster. Und er wisse angesichts von Konkurrenz von rechts wie der Brexit Party um den Populisten Nigel Farage, dass sich seine Partei nicht leisten kann, was Labour passiert ist: als weltfremd und abgehoben gelten. Doch ob die angekündigten Investments Erfolg versprechen, ist unklar. Casla ist pessimistisch. Strukturelle Probleme wie das hierarchische Bildungssystem griffen die Maßnahmen nicht an und die Investitionen seien allenfalls ein Anfang. "Man wird nicht einfach so die Folgen von zehn Jahren Sparpolitik wettmachen können." Und historisch gewachsene Klassenstrukturen schon gar nicht.

Der Autor promoviert in internationaler politischer Ökonomie am King's College London und ist freier Journalist.