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Arzneimittel : Systemwechsel in Krisenzeiten

Durch den Brexit muss die Versorgung mit n und Medizinprodukten in Europa neu organisiert werden

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
4 Min

Gesundheitsfachleute machen sich Sorgen, denn der Pharma-Brexit bringt Unsicherheiten für die medizinische Versorgung in der Europäischen Union (EU) und dem Vereinigten Königreich (UK) mit sich. Die Coronaepidemie verschärft die Lage noch, denn Europa steckt mitten in einer Gesundheitskrise mit allen Unwägbarkeiten, etwa für die Arzneimittelversorgung.

Viel Zeit bleibt nicht, um bis Ende des Jahres Anschlussregelungen auszuhandeln, die eine bestmögliche Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten hüben wie drüben ermöglichen. Da der Arzneimittelmarkt in UK und EU eng verflochten ist, ergibt sich mit dem Brexit nun ein besonders komplexes Handlungsfeld. Es geht um mögliche Engpässe bei bestimmten Arzneimitteln, Doppelstrukturen für Pharmafirmen, die europaweit verkaufen wollen, erweiterte Zulassungsprozesse und logistische Anforderungen etwa beim Transport empfindlicher Medikamente. In Deutschland kommt dabei viel Arbeit auf das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu, das sich darauf eingestellt hat, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Die Experten der Behörde erwarten "erhebliche Auswirkungen auf den Arzneimittelverkehr und -markt", geben sich aber zuversichtlich, dass es nicht zu Engpässen kommt. Das BfArM habe "in Bezug auf die versorgungsrelevanten Arzneimittel eine systematische Abfrage unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte durchgeführt, um möglichst frühzeitig mögliche Versorgungsrisiken zu identifizieren und geeignete Maßnahmen abstimmen zu können." Die Auswertung habe ergeben, dass "mit keinem Versorgungsengpass bei den als versorgungsrelevant eingestuften Arzneimitteln zu rechnen ist", erklärte die Behörde.

Neue Adresse Die wichtigste Trennung ist schon vollzogen: Die Europäische Arzneimittelagentur EMA, die bei der Zulassung von Arzneimitteln in der EU eine zentrale Rolle spielt und auch laufend die Sicherheit der Medikamente (Pharmakovigilanz) überwacht, hat bereits im März 2019 ihren Sitz von London nach Amsterdam verlegt, um weiter handlungsfähig zu sein. Wenn ein Arzneimittel im gesamten EU-Wirtschaftsraum vertrieben werden soll, ist ein zentrales Zulassungsverfahren nötig. Die EMA koordiniert das Verfahren und bewertet das Medikament, die EU-Kommission erteilt dann auf Empfehlung der EMA die Zulassung. Die Briten können mit dem Brexit nicht mehr Reference Member State (RMS) oder Rapporteur in solchen Zulassungsverfahren sein. Die britische Zulassungsbehörde (MHRA) steht für Verfahren innerhalb der EU nicht mehr zur Verfügung.

Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) fordert, in der Übergangsphase praktikable Regularien zu vereinbaren. Das Ziel müsse ein umfassendes Anerkennungsabkommen sein. Ohne Abkommen seien vor allem in Großbritannien Liefer- und Versorgungsengpässe nicht auszuschließen. Für Deutschland geht der Verband von einer sicheren Versorgungslage aus, da hier nicht gleich das ganze System umgestellt werden müsse.

Exporte Deutsche Hersteller haben laut BAH 2018 für mehr als vier Milliarden Euro Pharmazeutika nach Großbritannien geliefert. Von dort kamen Waren für knapp zwei Milliarden Euro nach Deutschland. Insbesondere deutsche Hersteller hätten wegen des Exportüberschusses ein Interesse daran, dass die bisherigen Regeln beibehalten würden. Wie eng die Verflechtungen in die EU sind, zeigt eine andere Zahl: Laut Angaben von 2017 exportierten die Briten monatlich 45 Millionen Packungen Fertigarzneimittel in die EU, in umgekehrte Richtung waren es 37 Millionen Packungen. Hinzu kamen Generika, verschreibungsfreie Medikamente (OTC) sowie Medizinprodukte.

Optimistisch gibt sich das Bundesgesundheitsministerium und verweist darauf, dass Arzneimittel und Medizinprodukte, die vor Ende der Übergangsfrist rechtmäßig in den Verkehr gebracht wurden, auch nach der Übergangszeit gehandelt werden dürfen, bis sie die Endverbraucher erreichen. Es gebe derzeit keine Hinweise darauf, dass der Brexit zu ernsthaften Problemen in der Versorgung mit Arzneimitteln und Impfstoffen führen werde.

In der Übergangsphase bis Ende 2020 dürften britische Benannte Stellen weiterhin Zertifikate für Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika ausstellen. Unklar sei aber, ob britische Benannte Stellen nach Ablauf der Übergangsphase weiter aktiv sein könnten. Künftig soll zudem eine novellierte EU-Verordnung für Medizinprodukte (MDR) gelten. Demnach müssen alle Benannten Stellen neu bewertet und notifiziert werden. Die EU-Verordnung sollte eigentlich schon ab Ende Mai 2020 gelten. Nun soll sie wegen der Coronakrise um ein Jahr verschoben werden.

Die Bundesregierung will die Verhandlungen in der Übergangsphase für Regelungen in drei Bereichen nutzen: Die Absicherung der Bürger im Krankheits- und Pflegefall, die Anerkennung von Berufsqualifikationen sowie den Warenverkehr mit Arzneimitteln und Medizinprodukten. Weil nach dem Ende der Übergangsfrist bestimmte Sozialabkommen nicht mehr gelten, sollen Neuregelungen verhindern, dass es zu Problemen bei der Absicherung im Krankheitsfall sowie bei der Abrechnung von Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen im jeweils anderen Land kommt.

Womöglich wird die Coronakrise die Verhandlungen beeinflussen, denn eines zeigt die Notlage schon: Kooperation ist hilfreicher als Abschottung. Laut BfArM gibt es derzeit noch keine Hinweise auf eine eingeschränkte Arzneimittelversorgung durch Produktionsausfälle etwa in China. Dafür hat die Behörde "eine nicht bedarfsgerechte Bevorratungsstrategie einzelner Akteure" beobachtet. Solche Hamsterkäufe bei Arzneimitteln könnten "lokal zu Lieferengpässen" führen.