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Kultur I : Das Empire lebt

Sparkurs, Brexit und jetzt Corona: Britanniens Kulturindustrie ist Kummer gewohnt und besitzt doch große Strahlkraft. Die Regionen stehen bei der Förderung im…

14.04.2020
2023-08-30T12:38:16.7200Z
5 Min

Britanniens Kulturindustrie liegt in Schockstarre, fast wie im Koma. Alles steht im Bann der Corona-Krise. Museen und Galerien, Theater, Kinos und Konzerthallen sind zugesperrt, wohl mindestens bis Mai werden die meisten großen Institutionen des Kulturbetriebs geschlossen bleiben. Gespenstisch leer ist es im Londoner Zentrum und im Westend, dem sonst so belebten Ausgeh- und Touristenviertel. An manche Fensterscheibe hat man Holz- oder Metallplatten als Schutz gegen Einbrecher geschraubt. Kaum Verkehr, kaum Menschen sieht man auf den Straßen. Es ist beklemmend still in der Weltstadt.

Wie ein Blitz Die Corona-Krise hat das ganze Land wie ein Blitz getroffen und schwer verletzt - auch den Kultursektor. Mehr als zwei Millionen Menschen sind in den verschiedensten Bereichen der Kulturindustrie beschäftigt, in der Medien-, Film- und Musikszene, in Verlagen und Büchereien, in der Werbebranche, in Theatern und Galerien, im Bereich Architektur, Design, Kunsthandwerk, Fotografie, Computeranimation und Videospiele. Viele arbeiten in Kleinunternehmen, viele sind Freiberufler. Die scharfe Rezession infolge des Corona-Stillstands trifft sie ins Mark.

Gigantische Ausfälle erleiden sie durch wegbleibende Touristen. In normalen Zeiten ist London eine der drei meistbesuchten Städte der Welt, hinter Bangkok und etwa gleichauf mit Paris. Rund 20 Millionen Ausländer strömten 2019 in die Metropole an der Themse, das gesamte Königreich verzeichnete etwa doppelt so viele Reisende. Fast ein Zehntel ihres Einkommens verdankt die Hauptstadt dem Tourismus. Der ist nun völlig ausgetrocknet, Hotels und Restaurants kämpfen ums Überleben. Aber sie hoffen, dass nach der Krise die Anziehungskraft der Kulturmetropole das Rad schnell wieder zum Laufen bringt.

Vier der zehn meistbesuchten Museen der Welt liegen in der britischen Hauptstadt: das British Museum mit den Elgin Marbles und dem Stein von Rosetta, die Tate Modern mit moderner und zeitgenössischer Kunst, die National Gallery mit Meisterwerken der Malerei vom Mittelalter bis zum Impressionismus und zum frühen 20. Jahrhundert, und das Natural History Museum. Sie ziehen jeweils fünf bis sechs Millionen Besucher im Jahr an, die nicht einmal Eintritt zahlen brauchen. Zum Vergleich: Der Louvre, das meistbesuchte Museum der Welt, kam 2019 etwas über zehn Millionen Besucher. Ins Victoria & Albert Museum gingen zuletzt vier Millionen, der Tower zog drei Millionen Schaulustige an. Daneben gibt es einen Dschungel an mittleren und kleinen Kultureinrichtungen - allein 240 Theater in London.

Kulturell ist Britannien bis heute eine Großmacht. Britische Künstler haben die moderne Welt geprägt, die Popmusikgeschichte etwa wäre undenkbar ohne sie. Aus Liverpool traten die Beatles ihren Siegeszug an und wurden die bekannteste Band des 20. Jahrhunderts, auch der Punk stammte von der Insel. Kinofans lieben James Bond, der als Agent 007 die Feinde ihrer Majestät erledigt. Monty Python mit ihrem skurrilen Humor begeistern bis heute Millionen. Das Image der Briten schwankt so zwischen Lässigkeit und Disziplin, Coolness und Steifheit. Auf jeden Fall kann sie nichts so schnell aus der Bahn werfen.

Tief aufgewühlt hat aber der Brexit-Streit die Kulturszene. Die Mehrheit der linksliberalen Künstler und Intellektuellen wollte keinen EU-Austritt, anders als die 17,4 Millionen Briten (51,9 Prozent), die im Juni 2016 für den EU-Austritt stimmten. Das Ergebnis war für viele ein Schock. Man sorgte sich um die Verbindung zum europäischen Kontinent, fürchtete um die Reisefreiheit und dass der Zugang zu Brüsseler Fördertöpfen endet. Die EU war für viele ein Ersatzvaterland.

Blase Nur wenige bemühten sich zu verstehen, warum die Mehrheit der Briten, besonders außerhalb der Hauptstadt, anders denkt. In einem kurzen Moment der Selbstkritik merkte der Musikproduzent und Songwriter Brian Eno im "Guardian" an, dass nicht die Brexit-Bewegung, sondern offenbar die linke Kulturszene in London in einer Blase gelebt habe. Man habe nicht gemerkt, wie draußen die Stimmung war. Auch vor der Dezember-Wahl wiederholte sich dieses Spiel: Während Eno in einem wütenden Song die Tory-Regierung ("Government from hell") angriff und für Labour-Chef Jeremy Corbyn warb, entschieden die Wähler genau andersherum.

Inzwischen sind die Brexit-Sorgen verblasst gegenüber den existentiellen Ängsten, welche die beispiellosen Folgen der Corona-Krise auslösen. Die wirtschaftliche Basis Tausender Kulturschaffender zerbröselt. Immerhin gibt es milliardenschwere Hilfspakete, die Finanzminister Rishi Sunak in Windeseile geschnürt hat, finanziert mit Zig-Milliarden neuen Schulden. Wie vor einem Jahrzehnt infolge der Finanzkrise explodiert jetzt das Staatsdefizit.

Eine Dekade Sparpolitik liegt hinter dem Königreich, die auch für die Kulturinstitutionen magere Jahre brachte, die noch immer nachwirken. Museen und Theater mussten mit schrumpfendem Budgets zurechtkommen. Zum Teil habe die konservative Regierung in den vergangenen Jahren Einschnitte in der Kulturförderung auch aus politischem Kalkül gesetzt, vermutet Lorne Campbell, früher Direktor der Northern Stage in Newcastle, jetzt am National Theatre Wales. Wenn die Tories bei linken, "progressiven" Theatern den Rotstift ansetzten, käme das bei "reaktionären" Wählern gut an, nach dem Motto "Gut, dass dieser Mist gestrichen wird", so Campbell.

Allerdings haben auch Kulturinstitutionen, die bei Konservativen hoch im Kurs stehen, wie die großen nationalen Museen, einen harten Sparkurs verkraften müssen. Die Förderung ist real um fast ein Fünftel zusammengeschmolzen. Vielfach bröckele die Substanz, warnte der Rechnungshof National Audit Office jüngst in einem Bericht über fünfzehn große Museen und Galerien: Installationen sind veraltet, von der Fassade der Wallace Collection brachen Teile ab, das Dach des Birmingham Museum and Art Gallery müsste dringend renoviert werden. Private Sponsoren geben gerne Geld für glänzende Ausstellungen, weniger gern für die Instandhaltung.

Bei der öffentlichen Kulturförderung zeigt sich zudem eine große regionale Unwucht: London erhält mit Abstand den Löwenanteil der öffentlichen Mittel. Zurecht gibt es Klagen über ein vernachlässigtes Kulturleben in der Provinz, in den Städten im Norden Englands und den Midlands, jenen Regionen, die auch durch den industriellen Niedergang wirtschaftlich viel schlechter dastehen als London mit seinem glitzernden Finanzzentrum. Ein Bericht des Thinktanks Onward hat die Verteilung der Zuwendungen des Arts Council England und des Kulturministeriums in den sieben Fiskaljahren bis 2017/2018 untersucht. Das Ergebnis: Fast die Hälfte des Geldes ging an Einrichtungen in London. Über die sieben Jahre erhielten die Londoner 687 Pfund öffentliche Kulturförderung pro Kopf, fast fünfmal so viel wie der Durchschnitt des restlichen Königreichs (144 Pfund).

Das entspricht dem traditionellen Muster britischer Förderpolitik, auch bei den Ausgaben für Verkehrsinfrastruktur, für Forschung oder Wohnungsbau, die sich auf London und Umgebung konzentrieren. "Seit Jahrzehnten schaufeln wir Dünger in jene Teile unserer Volkswirtschaft, die schon blühen, während wir den Samen anderswo das nötige Wasser verweigern", kritisierte der konservative Abgeordnete Neil O'Brien, Mitautor des Onward-Berichts.

Förderung für Regionen Inzwischen hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, das Muster zu ändern. "Levelling up" - also das Niveau der "abgehängten" Landesteile anheben, lautet das Motto der Regierung Johnson, die ihren triumphalen Sieg vor allem Zugewinnen in ehemaligen Labour-Hochburgen in Nordengland und Mittelengland verdankt. In erster Linie sind Milliarden-Ausgaben für Infrastrukturprojekte eingeplant, es gibt aber auch eine maßvolle Umverteilung von Kulturfördermitteln. Der Art Council England bemüht sich seit einigen Jahren um einen verstärkten Fokus auf die Regionen jenseits der Hauptstadt. Wie es nach der Corona-Krise mit der Kulturförderung weitergeht, steht aber in den Sternen. Zu befürchten ist, dass nach der Defizitorgie wieder das Regiment leerer Kassen beginnt.

Der Autor ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in London.