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WiederAufbaufonds : Quantensprung für Europa

Erstmals soll die EU selbst Schulden machen - die juristische Grundlage ist heikel

02.06.2020
2023-08-30T12:38:18.7200Z
5 Min

Europas Moment" ist gekommen. So sieht es jedenfalls Ursula von der Leyen. Für die Präsidentin der Europäischen Kommission verkörpert das 750-Milliarden-Euro-Paket, das sie vergangene Woche Mittwoch für den "Wiederaufbau" nach der Corona-Pandemie vorgeschlagen hat, mehr als ein großes Konjunkturprogramm. Schon längst geht es nicht mehr nur darum, die schlimmsten Folgen des Corona-Ausbruchs abzufedern. Das Wichtigste für von der Leyen ist, dass sich darum jetzt auch und vor allem die EU kümmert. In der Finanz- und in der Eurokrise habe Europa viel zu langsam reagiert, behauptet die EU-Kommission immer wieder, das dürfe sich nicht wiederholen. Die besonders betroffenen Länder hätten Anspruch auf die Solidarität der anderen Staaten. Verwalten will die Kommission diese Solidarität selbst. Insoweit steht die Brüsseler Behörde bereits als Krisengewinnerin fest.

Ungeahnte Größenordnung Klar ist auch schon, dass der Fonds einen Quantensprung in Richtung von "mehr Europa" markiert. Das lässt sich an zwei Zahlen festmachen. Die erste betrifft die Größenordnung des EU-Haushalts, wie er ohne die Coronakrise nicht zu Stande gekommen wäre. Der von der Kommission zusätzlich vorgeschlagene "reguläre" EU-Budgetrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 soll rund 1,1 Billionen Euro ausmachen. Er umfasst die normalen EU-Ausgaben in diesen sieben Jahren, von den Agrarsubventionen über die Regionalpolitik bis zur Forschungsförderung. Würde von der Leyens Wiederaufbau-Fonds in der von ihr vorgeschlagenen Höhe beschlossen, würde das von Brüssel verwaltete Budgetvolumen um zwei Drittel steigen.

Der zweite Vergleich betrifft die Vorschläge von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Die beiden hatten einen Fonds von 500 Milliarden Euro vorgeschlagen. Schon dieser galt als erhebliches deutsches Zugeständnis, da das Geld nicht in Form von Krediten an bedürftige Staaten weitergereicht werden soll, sondern als Zuschüsse, die nicht zurückzuzahlen sind. Die Bundesregierung hatte zuvor immer dafür plädiert, die Hilfe in erster Linie über Kredite abzuwickeln.

Brüssel hat den 500-Milliarden-Vorschlag übernommen, aber noch 250 Milliarden Euro draufgesetzt - die allerdings als Darlehen gewährt werden sollen. Hinzu kommt ein bereits beschlossenes "Corona-Sicherheitsnetz" von 540 Milliarden Euro.

Einen Quantensprung markiert der Vorschlag aus einem weiteren Grund. Erstmals soll die EU selbst Schulden machen, um den Fonds zu finanzieren. Für die Bundesregierung stellt das offenbar - nach jahrzehntelangem Widerstand gegen gemeinsame Schulden - kein Problem mehr dar. In Berlin scheint die Floskel zu genügen, es seien keine Eurobonds im klassischen Sinn vorgesehen. Das ist vor allem bemerkenswert, weil die durch die Schuldenaufnahme gewonnenen Mittel ohne Rückzahlungsverpflichtung an die Empfängerländer weitergereicht werden sollen und damit "verloren" sind.

Die juristische Grundlage ist heikel. Die Kommission will Artikel 311 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU heranziehen. Dieser besagt, dass "die Union sich mit den erforderlichen Mitteln ausstattet, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können". Ob das reicht, um das Verschuldungsverbot der EU zu umgehen, werden wohl die Gerichte klären müssen. Keine Eurobonds? Das ist eine Definitionsfrage. Geplant ist, dass die Kommission zur Finanzierung des Pakets Anleihen an den Finanzmärkten aufnimmt. Diese sollen Laufzeiten von bis zu 30 Jahren haben. Zur Absicherung dieser Schulden müssen die EU-Staaten mit mehr Geld als bisher für den EU-Haushalt haften. Die Obergrenze dafür soll von bisher 1,2 Prozent auf 2 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen. Mehr Geld müssen die Staaten nicht in den Haushalt einzahlen. Aber sie müssen sich verpflichten, für das Ausfallrisiko einzustehen. Für Deutschland stehen rund 200 Milliarden Euro im Feuer. Weil die deutschen Risiken auf diese Summe begrenzt sind und insofern keine gesamtschuldnerische Haftung geplant ist, handelt es sich nicht um Eurobonds im klassischen Sinne. Aber eine zusätzliche Haftung Deutschlands ist sehr wohl geplant.

Kehrtwende Ohne die deutsche Kehrtwende in Sachen Gemeinschaftsschulden und das deutsch-französische Papier zum Aufbaufonds wäre der Kommissionsvorschlag nicht denkbar gewesen. Davor hatte Berlin immer die Position vertreten, das an den Märkten aufgenommene Geld könne allenfalls als Kredit vergeben und müsse kurzfristig wieder zurückgezahlt werden. Davon kann nun keine Rede mehr sein. Die Kommission will damit 2028 beginnen; erst dreißig Jahre später sollen alle Schulden beglichen sein. Diese lange Laufzeit relativiert auch die erklärte Absicht, den Wiederaufbaufonds als einmaliges, an die Corona-Krise geknüpftes und zeitlich befristetes Instrument einzusetzen.

Der Wiederaufbaufonds macht den größten Teil des Brüsseler Gesamtpakets aus. Er soll den besonders von der Corona-Krise betroffenen Regionen und Branchen Geld zur Verfügung stellen. Verteilen will die Kommission das Geld nach ökonomischen Kriterien, etwa danach, wie stark die Wirtschaft durch die Krise geschrumpft oder wie hoch die Arbeitslosigkeit ist. Interessierte Regierungen müssen in Brüssel einen nationalen Wiederaufbau- und Reformplan einreichen, der den politischen Prioritäten der EU nicht widersprechen darf. Investitionen sollen also nur dann gefördert werden, wenn sie den drei aktuell wichtigsten Prioritäten der EU - Klimaschutz, Digitalisierung, Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft - nicht widersprechen. Zudem müssen die Regierungen die individuellen wirtschaftspolitischen EU-Empfehlungen für ihr Land im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters berücksichtigen. Aus Rücksichtnahme auf die bedürftigen Länder, besonders Italien, soll es allerdings nur eine sehr lockere Aufsicht über die Mittelverwendung geben. Die Kommission will unbedingt den Eindruck vermeiden, sie werde sich wie in der Euro-Krise (damals als Teil der in den Empfängerländern verpönten "Troika") in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten einmischen.

Italien steht im Kommissionsplan mit nicht rückzahlbaren Transfers von 81,8 Milliarden Euro an der Spitze; rechnet man die Kredite hinzu, sind es 172,7 Milliarden Euro. Spanien folgt mit 77,3 (inklusive Kredite 140,4) Milliarden Euro, danach kommt Polen mit 37,7 (63,8) Milliarden Euro. Deutschland soll 28,8 Milliarden Euro Transfers, aber keine Kredite erhalten.

Notwendig ist eine einstimmige Entscheidung der Mitgliedstaaten über das Konjunkturprogramm, aber auch über den mittelfristigen Budgetrahmen 2021 bis 2027, in den der geplante Wiederaufbaufonds integriert ist. Die Beratungen über den Haushalt waren im Februar am Widerstand der "sparsamen Vier" gescheitert, die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden. Sie forderten einen "moderneren" EU-Haushalt und wollten weniger beitragen als es die Kommission vorgeschlagen hatte.

In der Corona-Krise hat sich die Haltung der Vier nicht generell verändert. Vor allem dringen sie mit Blick auf den Wiederaufbaufonds auf eine Lösung, die ausschließlich auf rückzahlbare Kredite hinausliefe. Spätestens seit dem Kommissionsvorschlag sind die Vier aber in der Defensive.

Den absehbaren Widerstand der osteuropäischen Staaten, die bislang weniger schlimm von der Pandemie betroffen waren, scheint von der Leyen schon gebrochen zu haben - mit einem EU-üblichen Kompromiss: Sie sollen mehr Geld bekommen als zunächst geplant.

Gegensätze EU-Ratspräsident Charles Michel will den Kommissionsvorschlag auf die Tagesordnung des für den 18. und 19. Juni angesetzten EU-Gipfels setzen. Ob die Staats- und Regierungschefs dafür schon wieder nach Brüssel reisen können, ist noch nicht geklärt. Wahrscheinlich ist, dass eine Einigung erst zu Stande kommt, nachdem Deutschland zum 1. Juli die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat. Merkel wird dann nur noch begrenzt deutsche Interessen wahrnehmen können, da sie qua Amt als Kompromissstifterin gefragt ist.

Das gilt auch für die darauf folgenden Verhandlungen mit dem EU-Parlament. Wie schwierig diese werden, dürfte erst klar werden, wenn der Kompromiss der Mitgliedstaaten feststeht. Denn von der Leyens Entwurf haben die meisten Parlamentarier begrüßt, zumal dieser erstmals vorsieht, dass die EU zur Haushaltsfinanzierung eigene Mittel, sprich Steuern und Abgaben, generieren kann. Manfred Weber (CSU), Chef der mitgliederstärksten EVP-Parlamentsfraktion, lobte bereits: "Die Solidarität ist zurück."

Der Autor ist Korrespondent der "Frankfurter Allgemeine Zeitung". in Brüssel.