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Fleischindustrie : Dumping an der Schlachtbank

Der Corona-Ausbruch bei Tönnies legt miserable Zustände in den Betrieben offen

06.07.2020
2023-08-30T12:38:19.7200Z
5 Min

Eigentlich arbeiten sie bei Tönnies in der Fleischzerlegung. Oft mehr als zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche zersägen Camil (Name von der Redaktion geändert) und die anderen Schweine am Band. Jetzt stehen die Tönnies-Mitarbeiter, insgesamt rund 7.000 Männer und Frauen, unter Quarantäne und das Band steht still.

Viele verstecken sich aus Angst vor Übergriffen. Denn die Bevölkerung ist wütend: Weil zahlreiche Arbeiter positiv auf Covid-19 getestet wurden, musste der Kreis Gütersloh Kitas und Schulen schließen.

Tönnies hat seinen Stammsitz in Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh. Insgesamt arbeiten an 29 Standorten rund 16.000 Menschen, 2019 erzielte das Unternehmen einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro. Tönnies ist in Deutschland der Marktführer und ein Branchenriese in Europa. Und doch liegt die Profitabilität und die Wertschöpfung von deutschen Fleisch-Unternehmen wie diesem im Vergleich zu Referenzmärkten in Europa - wie Spanien, Dänemark, Belgien und Frankreich - im unteren Bereich. Was läuft schief im System der massenhaften Schlachtungen und Zerlegungen?

Ketten drücken Preise Anders als in Frankreich oder Spanien ist die Konzentration im Lebensmittel-Einzelhandel hierzulande am weitesten fortgeschritten. Die großen Supermarktketten beherrschen 85 Prozent des Marktes und damit die Preise. Tönnies und andere deutsche Unternehmen, wie etwa Westfleisch, das ebenfalls einen Corona-Ausbruch verzeichnete, versuchen unter anderem durch niedrige Lohnkosten profitabel zu wirtschaften. Mehr als die Hälfte ihrer Mitarbeiter sind nicht im Betrieb, sondern bei Subunternehmen angestellt. Die Folge: Das Unternehmen selbst ist nicht für diese Mitarbeiter zuständig, nimmt sich aus der Verantwortung. Überstunden, die nicht bezahlt werden, verschimmelte Unterkünfte und verheerende Arbeitsbedingungen - das alles geht im Zweifel auf die Kappe der Subunternehmen.

Ein polnischer Dolmetscher, der mit ausländischen Arbeitskräften aus verschiedenen Betrieben sprach, berichtet, die gesetzliche Arbeitszeit werde jeden Tag überschritten. Obwohl die Arbeiter Überstunden aufschreiben, werden diese nicht vergütet. Von ihrem niedrigen Lohn müssen sie teilweise noch Arbeitsgeräte und Sicherheitshandschuhe bezahlen. Wer länger krank ist, dem wird mit Rauswurf gedroht. Nasenbluten an der Wurstmaschine? Der Betrieb sei einfach weitergelaufen, erzählt ein polnischer Arbeiter. Selbst Tuberkulose-Ausbrüche seien verschwiegen worden.

Peter Kossen aus dem westfälischen Lengerich setzt sich seit Jahren für die osteuropäischen Arbeiter ein, denn die Situation der Menschen ist lange bekannt. Er hofft, dass diese "Sklaventreiberei", wie er es nennt, nun beendet wird.

Teilweise teilen sich zwei Personen ein Bett, sie arbeiten im Schichtbetrieb, mal schläft der eine darin, mal der andere. Auch Familien leben so. Denn anders als früher dürfen die osteuropäischen Kräfte jetzt das ganze Jahr über bleiben. Kossen wünscht sich von der Politik, dass sie die "organisierte Nichtzuständigkeit" der Fleischunternehmen aufhebt. Er steht hinter den Plänen des Bundesarbeitsministeriums: Abschaffung der Werkverträge, Festanstellung für alle Beschäftigten. Aber auch saubere und bezahlbare Werkswohnungen müssten geschaffen werden. Die Ordnungs- und Gesundheitsämter sollten besser hinschauen und bereits jetzt gültige Gesetze durchsetzen. Für die Familien müsste es Angebote der Integration geben. An den Erfolg einer freiwilligen Selbstverpflichtung glaubt Kossen nicht.

Volker Brüggenjürgen vom Caritasverband im Kreis Gütersloh hat wie Kossen seine Erfahrungen mit der Fleischindustrie gesammelt. Seit 2016 bietet die Caritas Beratungsgespräche für Rumänen, Polen und Bulgaren an. Brüggenjürgen berichtet von "unglaublichen Unfallquoten" und Krankheiten, die nicht beachtet würden. Hustend, mit Fieber oder anderen Gebrechen zur Arbeit zu kommen, das sei für die Mitarbeiter selbstverständlich.

Der massenhafte Corona-Ausbruch wundert ihn trotzdem, denn bei Tönnies sind Mitarbeiter des Kreisveterinäramts dauerhaft beschäftigt. Genug Gelegenheit für die Behörde also, hinzuschauen. Doch vom Kreis Gütersloh heißt es: Die 130 Kreis-Mitarbeiter seien für die Einhaltung der Hygienevorschriften nach Lebensmittelrecht zuständig, seien hauptsächlich bei der Schlachtung anwesend, teilweise bei der Zerlegung. Dabei gehe es ums Fleisch, nicht um die Schlachter und Zerleger. Was in der Kantine oder in Aufenthaltsräumen abliefe, ob da alle Sicherheitsabstände eingehalten und Masken getragen würden, das wüssten die Mitarbeiter nicht.

Der Kreis glaubt dennoch, die Ursache für die massenhafte Ansteckung gefunden zu haben. Der hinzugezogene Sachverständige, der Hygiene-Professor Martin Exner von der Uni Bonn, nahm die Lüftungsanlage ins Visier. Im Schlachtbereich werde die Luft von der Anlage auf sechs bis zehn Grad herunter gekühlt. Dafür werde die Luft aus dem Raum gesogen und gekühlt, dieselbe Luft dann ungefiltert und ohne Beimischung von Frischluft wieder zurückgeführt. So könnten sich die Aerosole überall verbreiten. Exner schlägt Hochleistungsfilter für die Lüftungsanlage vor oder eine Behandlung mit UV-Strahlen. Außerdem sei vermutlich die Enge in den überfüllten Unterkünften für die massenhafte Ansteckung verantwortlich.

Den Unterkünften widmet sich derzeit der Kreis Gütersloh. Eine Sisyphos-Arbeit, denn Tönnies habe die Unterlagen unvollständig und erst nach mehrmaliger Aufforderung herausgegeben. Ein Kreis-Sprecher formuliert es so: Nach einigem Hin und Her seien Behördenmitarbeiter in einer "nächtlichen Aktion zu Tönnies gefahren" und hätten die Listen gefordert. Anschließend habe sich herausgestellt, dass manche Adressen nicht mehr aktuell waren.

Sparen am Personal Um zu verstehen, warum die Zustände in der Fleischindustrie seit Jahren so miserabel sind, muss man sich die deutsche Unternehmenskultur, die Landwirtschaft und das Verbraucherverhalten anschauen. Josef Efken ist Experte für Vieh- und Fleischmärkte am Thünen-Institut und glaubt: Würden alle Arbeiter, die jetzt bei Subunternehmen zu geringen Lohnkosten angestellt sind, fest bei Tönnies und anderen Fleischproduzenten arbeiten, hätte das kaum Auswirkungen auf die Preise. Einige Schlachtunternehmen hätten bereits jetzt ausschließlich eigenes Personal, und den Unternehmen ginge es nicht schlechter. Denn die Personalkosten hätten nur einen geringen Anteil an den Gesamtkosten der Fleischindustrie, nämlich unter zehn Prozent, sagt Efken. Den Bärenanteil habe der Fleischeinkauf. So seien Mastschweine in Deutschland durch neue Regeln für die Landwirtschaft vergleichsweise teuer geworden. Schon die Androhung weiterer Regularien, wie etwa die Abschaffung der Kastration der Ferkel ohne Betäubung, die erst im kommenden Jahr in Kraft tritt, habe zur Aufgabe von Höfen und damit zu noch weniger Mastschweinen geführt. Um die Preise stabil zu halten, werde bei den Lohnkosten gespart.

Die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch hält Efken für den falschen Weg. Der garantiere nicht, dass sich auch die Arbeitsbedingungen der Schlachter und Zerleger besserten. Er plädiert stattdessen für gesetzliche Standards für Arbeitsbedingungen und Tierhaltung sowie die Kontrolle ihrer Einhaltung. Das Fleisch würde dadurch auch teurer, aber das Geld käme an der richtigen Stelle an.

Ähnlich argumentiert Achim Spiller. Der Professor für "Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte" an der Universität Göttingen war Mitglied der Borchert-Kommission, die im Februar ihren Zwischenbericht über die Tierwohlabgabe abgeliefert hat. Ihm zufolge würde die Verbesserung der Tierhaltung das Kilo Fleisch viel mehr verteuern als die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie. Spiller meint, um das Leben der Fleischarbeiter zu verbessern, müssten die Unternehmen gezwungen werden, sie selbst anzustellen.

Für Camil und seine Kollegen ist die geplante Abschaffung der Werkverträge immerhin ein Hoffnungsschimmer. Ein eigenes Zimmer und geregelte Arbeitszeiten - bisher war das für sie nur ein scheinbar unerfüllbarer Traum.

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Münster.