Piwik Webtracking Image

Groß-Berlin : Geburt einer Weltstadt

Vor 100 Jahren wurde die Hauptstadt zur Metropole

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
5 Min

Er unternimmt einen letzten Versuch. Monatelang hat sich Eugen Leidig gegen die Kommunalreform gesträubt, die aus dem zersiedelten Großraum um Berlin eine einzige Stadt machen soll. Nun, im April 1920, stellt der Abgeordnete der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) im Preußischen Landtag fest, dass das Haus bei dieser zweiten Aussprache über das angeblich so wichtige "Gesetz zur Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin" in den Reihen der Parlamentarier wie auf den Zuschauerbänken weitgehend leer ist: "Ich könnte daraus schließen, dass die Bevölkerung mit dem jetzigen Zustande durchaus zufrieden ist."

Leidig erntet damit spöttisches Gelächter bei den Sozialdemokraten, die zwei Jahre zuvor als stärkste politische Kraft aus den Wirren des Kriegsendes hervorgegangen sind. "Groß-Berlin wusste nicht, dass Sie reden, sonst wären alle gekommen", ruft einer belustigt. Leidig lässt die Bemerkung an sich abperlen. Für ihn ist das Vorhaben der regierenden SPD ein "Sprung ins Dunkle, wie er in der ganzen Welt noch nie dagewesen ist". Wie soll angesichts radikaler Kräfte auf den Boulevards der Hauptstadt ein so vertracktes Unterfangen wie die Gründung einer Megametropole vernünftig sein?

Gewachsenes Flickwerk Es ist im Frühjahr 1920 keine Kleinigkeit, das historisch gewachsene Flickwerk aus acht eigenständigen Städten, 59 Umlandgemeinden und 27 Gutsbezirken der Idee eines Groß-Berlin zu unterwerfen. Ein Gebiet, das über Nacht auf das 13-fache seiner vorherigen Größe anschwellen würde, sei nicht zu kontrollieren, lautet eine oft geäußerte Warnung. Die wirtschaftlichen Folgen des verlorenen Krieges sind erdrückend. In dieser Not könne man keine Organisation aufzubauen, die auf die "völlige Bevormundung des Berliner Bürgertums" hinauslaufe, wie Leidig argumentiert.

Mehrfach war die Vereinigung des sich rasant ausbreitenden Ballungsraums bereits gescheitert. Nach einer ersten Eingemeindung großer Gebiete um 1860 unterstützte der preußische Staat die Ausdehnung zunächst mit dem "Hobrecht-Plan", der Berlin ein umfangreiches Straßen- und Kanalisationsnetz verschaffte - nicht etwa beschränkt auf die damals schon bebaute Fläche, sondern in den Grenzen des erwarteten Wachstums. Danach passierte lange nichts mehr. Ab 1909 hielt der Kaiser weitere Landgewinne für "nicht zweckmäßig". Wilhelm II. fürchtete einen Staat im Staate, der die Gewichte im Reich Richtung Arbeiterklasse verschieben würde.

Großes Elend Nur der Bildung eines Zweckverbandes stimmte man 1911 zu. Der sollte die nötigsten kommunalen Belange gemeinschaftlich klären. Obwohl seine Erfolge größer waren als sein schlechter Ruf (so sicherte er den bis heute bestehenden Grüngürtel mit seinen Wäldern und Parks), setzte er dem Gerangel um Kompetenzen und Steuern, mit denen sich die Kommunen Konkurrenz machten, kein Ende. Obgleich durch das Verkehrsnetz der Reichsbahn längst ein einheitlicher Stadtraum geschaffen war, wurde mit kommunalen Steuersätzen Bevölkerungspolitik betrieben. Während Arbeiterbezirke nicht das Geld für den nötigen Bau von Wohnsiedlungen auftreiben konnten, entstanden in Villenkolonien des Südwestens dank günstiger Abgaben Prachtbauten zum Nulltarif. Die Folge: großes Elend. Mehr als 600.000 Berliner hausten in Wohnungen, deren Zimmer mit fünf oder mehr Personen belegt waren. Da es 17 Wasser-, 40 Gas- und 60 Kanalisationsbetriebe im Großraum gab, dazu 15 Elektrizitätsversorger, herrschte "kommunale Anarchie", wie es ein Lokalpolitiker nannte.

Mit der veränderten politischen Landschaft öffnet sich nach 1918 das Zeitfenster für eine Neuordnung. Um das passende Modell wird erbittert gekämpft. Soll eine zentralisierte Metropole entstehen, die alle Kompetenzen an sich zieht? Oder eine Union, deren einzelne Teile autonom bleiben?

Eine bedeutende Rolle spielt Berlins damaliger Bürgermeister Adolf Wermuth (parteilos). 1912 ins Rote Rathaus gekommen, hat er noch immer nicht umgesetzt, was sich "am ersten Tag unwiderstehlich aufdrängte". Aber er hat er einen mächtigen Verbündeten gewonnen: Preußens Innenministerium leitet mit Paul Hirsch (SPD) ein Verfechter der Großstadt-Idee. Doch bevor es Anfang 1919 zu einer von ihm anberaumten Besprechung kommt, wird ein neues kommunales Wahlrecht eingeführt.

Damit ist absehbar, dass die Sozialisten in den meisten Stadtteilen die Mehrheit erringen werden; die "Groß-Berliner Frage" wird zum Zankapfel, der "die bisher einige Bürgerschaft" spaltet, wie die Landesregierung später bilanziert. Die Furcht vor einer sozialistischen Steuer- und Finanzpolitik ist im Bürgertum so groß, dass es sich gegen jede Form der Eingemeindung wendet. Zwar mäßigt es seinen Ton wieder nach der Niederschlagung des Spartakus-Aufstands, aber die Stadt bleibt gespalten.

Daraufhin ändert die Regierung ihre Strategie. Sie betraut Unterstaatssekretär Friedrich Freund mit der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs - der "Vater des Zweckverbandes" hatte dessen eingeschränkte Befugnisse stets bedauert. Er darf nun auch öffentlich die Vorzüge einer umfassenden Eingemeindung darlegen. Vor allem die mangelnde demokratische Verankerung war dem liberalen Beamten ein Dorn im Auge: Weil die Bevölkerung nie in die Entscheidungsprozesse des Zweckverbandes eingebunden war, habe dieser keine Akzeptanz gefunden.

Die Positionen der Parteien liegen weit auseinander. Die SPD, die für Freunds Gesetzentwurf ist, kommt mit dem Grüppchen radikaler Unabhängiger Sozialdemokraten (USDP) auf etwa so viele Stimmen wie die konservative Allianz aus Zentrum und DVP sowie Deutschnationaler Volkspartei (DNVP). Im Wesentlichen hängt alles von den linksliberalen Demokraten (DDP) ab, die in der Sache unsicher sind. Ihr Wortführer, Schönebergs Bürgermeister Alexander Dominicus, favorisiert anfangs eher das Modell einer Gesamtgemeinde, plädiert dann aber energisch für eine Einheitsgemeinde. Diese beiden Begriffe prägen die Debatte. Während die Einheitsgemeinde die wichtigsten Kompetenzen stadtweit an einen Magistrat delegiert und die dezentrale Organisation Bezirksämtern überträgt, versteht man unter Gesamtgemeinde einen Bund autonomer Gebilde, mithin einen reformierten Zweckverband.

In mehr als 20 Ausschusssitzungen werden 151 Änderungsanträge abgearbeitet, unzählige Petitionen und Eingaben berücksichtigt. Empfindlichster Punkt ist das Geld. Für Freund ist essenziell, dass ein einheitlicher Berliner Stadtraum nicht nur künftige Lasten und Defizite trägt, sondern auch die Altschulden der armen Bezirke übernimmt. Das trifft auf massive Gegenwehr. Es sollten nur die "Spuren einer schlechten Finanzwirtschaft verdeckt werden", sagt ein Konservativer, worauf der Liberale Dominicus entgegnet, der Bankrott eines Vororts werde seine Wirkung auf alle anderen nicht verfehlen.

Hauchdünn Am Ende geht es schnell. Um 12.30 Uhr wird am 27. April die 139. Sitzung der "Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung" eröffnet. 165 Parlamentarier votieren für das Gesetz, acht mehr als nötig - ein hauchdünner Vorsprung. Mit knapp vier Millionen Einwohnern wird Berlin nach New York und London drittgrößte Metropole der Welt, rangiert flächenmäßig hinter Los Angeles auf Platz zwei.

Das Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Oktober 1920 nennt der Historiker Jens Bisky als "einen der wichtigsten Tage der Stadtgeschichte". Berlin gibt sich eine Verwaltungsstruktur, die selbst NS-"Germania"-Fantasien, Teilung und Wiedervereinigung übersteht. In kaum einer anderen Weltstadt sind die Interessen des Großraums und der Bezirke so fein ausbalanciert wie in Berlin. Nicht immer zur Freude derer, die etwas bewegen wollen.

Der Autor ist Redakteur des Berliner "Tagesspiegel".