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Weg vom Auto : Avantgarde der Verkehrswende?

Der Großstadtverkehr soll per Gesetz modernisiert werden. Doch es hapert mit der Umsetzung

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
5 Min

Was in Deutschland das platte Land ist, ist in Berlin der Stadtrand. Das ansonsten dichte Nahverkehrsnetz wird in den Außenbezirken mitunter etwas löchrig. Auch an der Peripherie der Hauptstadt fühlen sich deshalb viele Menschen abgehängt. Deutlich zeigt sich das etwa in Marzahn-Hellersdorf. Wer von dort in die Innenstadt will, muss teilweise selbst in der Hauptverkehrszeit 20 Minuten auf den Bus zum nächsten Bahnhof warten. Und neue Verkehrsangebote - wie Leihräder, Carsharing oder moderne Sammeltaxi-Dienste wie der Berlkönig - finden sich in dem östlichen Stadtbezirk bisher überhaupt nicht.

Auf Abruf Doch ein neuer Service der städtischen Verkehrsgesellschaft BVG stellt die etablierte Erzählung vom vernachlässigten Stadtrand nun in Frage. In den drei Ostbezirken Marzahn-Hellersdorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick will die BVG nach Informationen der "Berliner Morgenpost" ab 2021 digital organisierte Rufbusse anbieten. Der On-Demand-Dienst soll Fahrgäste jederzeit von jedem beliebigen Punkt zur nächsten S- oder U-Bahnstation bringen. BVG-Kunden sollen dafür nach dem (noch unveröffentlichten) Konzept nur einen geringen Aufpreis von 1,50 Euro zahlen.

Ein derartiger Ride-Sharing-Service könnte die Schwächen des Berliner Nahverkehrs ein gutes Stück ausgleichen. Der rot-rot-grüne Senat käme damit seinem Versprechen, allen Berlinern auch ohne eigenes Auto die bequeme Fortbewegung in der eigenen Stadt zu ermöglichen, wesentlich näher. Festgelegt ist dieses Ziel im vor zwei Jahren verabschiedeten Mobilitätsgesetz. Berlin ist damit deutschlandweit das einzige Bundesland, das sich eine - nun ja - Roadmap für die systematische Umsetzung der Verkehrswende gegeben hat. Doch taugt die Hauptstadt damit auch zum Vorbild?

Das hängt von der Perspektive ab. "Mit dem Gesetz wird Verkehr in der Stadt erstmals allumfassend und nicht mehr nur vom Auto her gedacht", lobt Anne Klein-Hitpaß, die Projektleiterin Städtische Mobilität beim Think-Tank Agora Verkehrswende. Der Soziologe und Verkehrsexperte Andreas Knie sieht damit gar einen neuen gesellschaftlichen Konsens. "Es ist der klar definierte Wille eines Landes, dem Autoverkehr Raum zu nehmen", sagt er. "Das ist eine gute demokratische Grundlage für die Verkehrswende."

Viele Berliner schauen dagegen eher auf den Status quo und sind kaum zufrieden mit ihrer Landesregierung. Auf Twitter dokumentieren Fahrradaktivisten beinahe täglich, wie die Verkehrswende aus ihrer Sicht misslingt. Sie zeigen Fotos von zugeparkten Radwegen und halten Mahnwachen für im Straßenverkehr getötete Radfahrer und Fußgänger ab. Und ihre Stimme hat Gewicht, denn das Mobilitätsgesetz entstand nicht zuletzt durch ihren Druck.

Fahrrad im Fokus Binnen drei Wochen hatte die "Initiative Volksentscheid Fahrrad" 2016 über 100.000 Unterschriften für ein Volksbegehren gesammelt, mit dem ein Gesetz zur Förderung des Radverkehrs geschaffen werden sollte. Der frisch gewählte rot-rot-grüne Senat machte sich das Vorhaben dann zu eigen und entwickelt den Gesetzesvorschlag nun schrittweise zu einem umfassenden Mobilitätsgesetz weiter, das die Mobilität per Rad, zu Fuß, mit Bus und Bahn sowie den Wirtschaftsverkehr und neue Mobilitätsangebote regelt.

Doch ausgerechnet beim im Mobilitätsgesetz detailliert vorgeschriebenen Radwegeausbau schwächelt der Senat. Nach dem Gesetz sind bevorzugt sogenannte geschützte Radwege zu bauen, bei denen die Radler durch Poller oder ähnliches abgetrennt vom Autoverkehr fahren. Davon wurden in der ganzen Stadt bisher erst acht gebaut, die Gesamtlänge liegt nur bei etwa fünf Kilometern. In den vergangen zwei Jahren wurden zudem bloß 20 Kilometer mit grüner Signalfarbe markiert. Insgesamt haben die zuständigen Bezirke in den Jahren 2017, 2018 und 2019 gerade einmal 100 Kilometer neue Radwegeanlagen geschaffen. Ein Lichtblick sind aber die temporären Pop-Up-Radwege. Auf dreizehn Strecken wurden hier während der Corona-Pandemie schnell 26 Kilometer geschaffen.

Bei dem gegenwärtigen Tempo würden die Ausbauziele des Mobilitätsgesetzes verfehlt, erklärt Denis Petri vom Verein Changing Cities, der aus dem Volksentscheid Fahrrad hervorgegangen ist. Bis 2030 soll Berlin laut dem Gesetz ein vollständiges Radwegenetz erhalten - unter anderem sollen dabei alle Hauptstraßen auf beiden Seiten mit einem Radweg ausgestattet werden. "Allein dafür müssten wir etwa 100 Kilometer Radwege pro Jahr bauen", rechnet Petri vor. Und insgesamt seien etwa 300 Kilometer neue Radwege pro Jahr nötig.

Strukturaufbau Dass bisher nicht mehr Radwege gebaut wurden, hat die von den Grünen geführte Verkehrsverwaltung immer wieder damit begründet, dass zunächst die passenden Strukturen aufgebaut werden mussten. So habe man die Zahl der Radwegeplaner in der Berliner Verwaltung zunächst massiv erhöht - von 3,5 auf 70 Vollzeitstellen - besetzt sind bisher jedoch längst nicht alle. Außerdem habe man neue Organisationen geschaffen, die den Radwege-Ausbau planen.

"Die Erklärung wird nach drei Jahren Rot-Rot-Grün aber immer dünner", sagt Petri. Er kritisiert, dass die Verkehrsverwaltung anders als gesetzlich vorgeschrieben, zwei Jahre nach Verabschiedung des Mobilitätsgesetzes noch keinen Plan für das zukünftige Radwegenetz und keinen Radverkehrsplan, der die Gestaltung der neuen Radwege verbindlich festlegen soll, beschlossen hat. Das mache es den für den Radwegebau zuständigen Bezirken einfach, ihr Nicht-Handeln auf fehlende Vorlagen zurückzuführen.

"Der Dualismus zwischen dem Senat und den Bezirken ist in gewisser Hinsicht ein besonderes Problem der Berliner Verwaltung", sagt dazu Anne Klein-Hitpaß von Agora Verkehrswende. Andererseits gebe es anderswo durchaus ähnliche Hürden. Denn die Bezirke entsprächen in etwa den Gemeinden in anderen Bundesländern.

Das Nebeneinander von ambitionierten Zielen und bisher kaum sichtbaren Ergebnissen zeigt sich beim Berliner Mobilitätsgesetz allerdings auch in anderen Verkehrssektoren. So will der Senat im Nahverkehr das bereits gute Berliner Angebot noch einmal deutlich ausbauen. Auch auf Nebenstrecken im Bus- und Tramnetz soll es demnach zukünftig einen Zehn-Minuten-Takt geben. Bis 2030 sollen in Berlin zudem nur noch E-Busse fahren. Das Straßenbahnnetz soll um 73 Kilometer erweitert werden. Insgesamt 28 Milliarden Euro sollen dafür bis 2035 investiert werden.

Das Problem: Bis all die neuen Züge und Busse zur Verfügung stehen, wird es noch einige Zeit dauern. Und für den Streckenausbau fehlen Berlin fertig geplante Projekte. Hier zeigt sich ein deutschlandweites Hindernis für die Verkehrswende, das viele deutsche Metropolen kennen. Nachdem jahrelang wenig in den Ausbau investiert wurde, lässt sich das Angebot auch angesichts fehlender Planer nun nicht schlagartig erweitern.

Die Kapitel des Mobilitätsgesetzes zum Fußverkehr, zum Wirtschaftsverkehr und neuen Mobilitätskonzepten befinden sich dagegen noch in der parlamentarischen Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Aber der Verkehrsplaner Tim Lehmann, der sich in der "Initiative Volksentscheid Fahrrad" engagiert hat und der bei der Erarbeitung der neuen Gesetzeskapitel beteiligt ist, sieht bereits jetzt eine ungute Tendenz. "In den Gesetzesvorhaben steht viel Gutes drin", sagt er, "aber nach den Misserfolgen beim Radverkehr scheut der Senat klare Zielvorgaben."

Konsens für Wende Hat das Mobilitätsgesetz nach zwei Jahren also bloß Erschöpfung auf allen Seiten gebracht? Andreas Knie zieht ein positiveres Fazit. "Pop-up-Radwege konnte Berlin in der Corona-Krise auch deshalb so schnell einrichten, weil es nicht nur fertige Planungen, sondern wegen des Mobilitätsgesetzes auch einen gesellschaftlichen Konsens für die Verkehrswende gab. Und damit ist Berlin tatsächlich deutschlandweit zum Vorbild geworden."

Der Autor ist Redakteur des Berliner "Tagesspiegel".