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BERLIN : Schaut auf diese Stadt!

Weltoffen und wandlungsfähig mit Neigung zur Wurstigkeit. Über das Berlinische

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
5 Min

Berlin ist schon mit vielen Schlagworten bedacht worden: Sparta, Spree-Athen, Chicago an der Spree, ein Emporkömmling unter den europäischen Metropolen - eine "Parvenüpolis". In den Kulturkämpfen der Weimarer Zeit galt es den einen als verdorbenes "Babylon", den anderen als "Exerzierfeld der Moderne" und mit seinem Nachtleben als Muster der Freizügigkeit. Noch heute zehrt der Ruf Berlins auch von diesem Weltaugenblick der Stadt, dem das "Dritte Reich" ein brutales Ende setzte: Berlin als Herrschaftszentrale der Nationalsozialisten vernichtete und vertrieb das Babylonische, Vielgestaltige, Unbefangene, Jüdische, Freisinnige, Sozialdemokratische und auch Preußische, das die Stadt ausmachte. Auf die Hybris der "Welthauptstadt Germania" folgte die Nemesis der zerstörten und schließlich der geteilten Stadt im Kalten Krieg, in dem die Bewohner sich mit der monströsen Tatsache einer 160 Kilometer langen Mauer zu arrangieren hatten. "Ach, wenn man bedenkt, dies hätte das Jahrhundert der Deutschen sein sollen", so soll es der französische Philosoph Raymond Aron zu dem vor den Nazis in die USA geflüchteten Geschichtsstudenten Fritz Stern gesagt haben, als sich beide in der Ruinenwelt von 1945 trafen. "Deutschland hat das alles selber zunichte gemacht. Und dabei schickte Berlin sich doch gerade an, die älteren und glanzvolleren Metropolen Europas an den Rand zu spielen."

Überforderung und Wachstumsstress gepaart mit der Sehnsucht nach Normalität sind eine Konstante der Berliner Geschichte: Das war im Falle der Residenzstadt beim Aufstieg Preußens zur europäischen Großmacht so und dann wieder im 19. Jahrhundert in den Phasen der wilden Industrialisierung und des Aufstiegs zur Reichshauptstadt.

Dass die Stadt erst spät, vor genau 100 Jahren, zur Einheitsgemeinde wurde, ist kein Zufall. Über Jahrhunderte führten die Hohenzollern das Regiment, während kommunaler Berliner Eigensinn wenig ausgeprägt blieb. Und andererseits verdankte Berlin ebendieser oft ungeliebten Residenz ein geistiges Eigenleben, das sich bereitwillig Impulsen von außen öffnete, sich aus dem bloß Märkischen erhob und an kultureller Strahlkraft gewann. "Heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude", so soll es im Journal der Torwache an einem Oktobertag des Jahres 1743 vermerkt worden sein. Gemeint war die Ankunft Moses Mendelssohns, ein nahezu recht- und mitteloser 14-Jähriger aus Dessau, der an der Spree mit dem Wunsch zu lernen auftauchte und der sich als seines Glückes Schmied später mit Gotthold Ephraim Lessing und Christoph Friedrich Nicolai zum Dreigestirn der Berliner Aufklärung aufschwingen würde: Beispiel einer deutsch-jüdischen Symbiose, ohne die Berlin nicht geworden wäre, was es bis 1933 war.

Berlin wird Metropole Mit dem Groß-Berlin-Gesetz strebte Berlin 1920 in weltstädtische Dimensionen. Mit knapp vier Millionen Einwohnern wuchs es über Nacht zur drittgrößten Metropole nach New York und London und wurde flächenmäßig nach Los Angeles die zweitgrößte Stadt der Welt. Vorausgegangen waren mehrere Anläufe einer Fusion der selbständigen Städte und Vorortgemeinden, was vor allem am Widerstand der wohlhabenden Kommunen gescheitert war, die eine Übernahme ihres Vorortidylls durch das "rote Berlin" fürchteten. Erst im Windschatten des Revolutionsgeschehens 1918/1919 gelang es, aus dem bisherigen Zweckverband eine Einheitsgemeinde zu formen. Damals gab sich die Stadt (genau: der Preußische Landtag) mit Magistrat (heute Senat) und Bezirksämtern eine polyzentrische Verwaltungsstruktur, die im Wesentlichen noch heute gültig ist und die auch bis heute für Schildbürgerstreiche aller Art sorgt: Ob Straßenbau oder Schulplanung, das Berliner Publikum folgt dem Hin- und Hergeschiebe von Verantwortung zwischen Land und Bezirken wie der weißen Kugel eines geschickten Hütchenspielers.

Berlin ist all solchen Widrigkeiten zum Trotze erneut und wieder einmal zum Sehnsuchts- und Ankunftsort für viele geworden. Und wie so oft in ihrer Geschichte scheint die Stadt überfordert mit dem Stress, den solches Wachstum erzeugt: überfüllte Bürgerämter, eine peinliche Flughafendauerbaustelle, bröckelnde Brücken, galoppierende Mieten, Verdrängung, Lehrermangel: "Failed State Berlin"! Berlin, das ist eine der ganz wenigen Hauptstädte, die von sich behaupten können, dass es dem von ihnen repräsentierten Gesamtstaat ohne sie wirtschaftlich besser gehen würde. Ein Undenkbarkeit in Frankreich, dessen Bruttoinlandsprodukt ohne Paris um etwa 15 Prozent niedriger läge! Wie immer liegen Provinzialität und Großspurigkeit hier dicht beieinander. Berliner betrachten sich ganz selbstverständlich als Bewohner einer Metropole von Weltrang - aber eben eine mit Spätis und dem Tomatenpflanzen-Idyll auf dem Balkon. "Berlin", so resümiert der Autor und Schauspieler Hanns Zischler, "ist zu groß für Berlin." Die Stadt versteht sich darauf, Sehnsüchte zu wecken, aber sie weckt auch Aversionen. Häufig wurde "Amerikanisches" an Berlin bemerkt: Größenwahn und Abrisslust, Gleichgültigkeit gegenüber dem gebauten Erbe der Vergangenheit. Nur Berlin gelingt das Kunststück, das Juwel einer Schinkel-Kirche nicht nur durch Neubebauung optisch zum Verschwinden zu bringen, sondern sogar in Einsturzgefahr. Auf Schritt und Tritt lauert hier Geschichte. Unter den Grasnarben grüner Hügel liegt der Trümmerschutt des alten Berlins.

Kommen und Gehen Eine weitere Berliner Konstante: Ein fortwährendes Kommen und Gehen und die erstaunliche Integrationsfähigkeit der Stadt - manche sagen: die Indifferenz ihrer Bewohner, die sich durch nichts und niemanden verblüffen lassen. "Die Religionen Müßen alle Tolleriret werden", schrieb Friedrich II. im Jahre seiner Thronbesteigung 1740. "Hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden." Was seine Durchlaucht verfügte, verfing in der Stadt an der Spree. Andernorts bleibt man ein Zugezogener, aber zum Berliner konnte man es eigentlich immer bringen - oder, wie es der Berliner Kurt Tucholsky so schön formuliert hat: "Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit."

Zwei Millionen Einwohner haben die nach 1989 wieder zusammenwachsende Stadt verlassen, und noch mehr sind seither gekommen. Jeder zweite heutige Bewohner ist nicht hier geboren. Dass man sich gegenseitig in Ruhe lässt, machen lässt, aneinander vorbeikommt, gehört zum Selbstverständnis der Stadt. Desinteresse und Teilnahmslosigkeit sind die Kehrseite dieser Berliner Toleranz, eine grobe Wurstigkeit gegenüber verwahrlosten Winkeln und den Problemen eines Gemeinwesens mit womöglich bald vier Millionen Einwohnern: Auch dit is Berlin. Bei seinem letzten Auftritt im Bundesrat richtete der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seinen "Dank an meine Sponsoren Herrn Seehofer, Herrn Bouffier und Herrn Kretschmann". Beim Länderfinanzausgleich ist das Land Berlin bis heute einer der fleißigsten Nehmer.

Schloss mit Forum Mit der Rekonstruktion des Stadtschlosses der Hohenzollern und der Eröffnung des Humboldt Forums Ende des Jahres wird in der Mitte der Stadt ein Museumsbezirk weiter wachsen, der mit der Museumsinsel seinesgleichen sucht und dessen Sammlungen dann einen Bogen von der Prähistorie über die Antike bis hin zur Kunst des 19. Jahrhunderts spannen werden. Nach den erbitterten Ost-West-Debatten über den Abriss des Palasts der Republik herzen die Stadtbewohner das Neubauschloss inzwischen weitgehend mit Desinteresse. Der Vorvorgänger, die Hohenzollern-Residenz, 1945 ausgebrannt, 1950 vom SED-Staat gesprengt, war nie ein Bauwerk des Berliner Wohlgefallens. Wird der neue Bau ein Dialog der Weltkulturen in der Mitte der deutschen Hauptstadt ermöglichen, wie die Befürworter meinen? Und kann er eine städtebauliche Wunde heilen - in einer Stadt, die eine Mitte, aber kein Zentrum hat?

In seinem Aufsatz über den "Berliner Ton" machte sich Theodor Fontane Gedanken über die Spreeanwohner, auch er so ein waschechter Berliner aus Neuruppin. Berliner wüssten alles, ließen niemanden zu Worte kommen und unterbrächen jeden. Sie hätten bis zu einem hohen Grade die Fähigkeit ausgebildet, die lächerlichen Seiten einer Sache herauszufühlen: "Vor Gott", schloss Fontane, "sind eigentlich alle Menschen Berliner".