Piwik Webtracking Image

großbritannien : Im Lastwagen durch den Tunnel

Die Regierung hat sich ehrgeizige Impfziele gesetzt, aber die Probleme stecken im Detail

21.12.2020
2023-08-30T12:38:28.7200Z
5 Min

Reine Routine für die Krankenschwester, aber ein bedeutsamer Moment für das Land. "Entspannen Sie ihren Arm", sagt May Parsons zu ihrer Patientin, der 90-jährigen Margaret Keenan. Die Spritze hält sie in ihrer rechten Hand. Dann piekst sie und meint fröhlich: "Schon gemacht." Kameras blitzen, Applaus von den umstehenden Zuschauern.

So begann am 8. Dezember im University Hospital im englischen Coventry das größte Impfprogramm, das Großbritannien jemals gesehen hat. In der Woche zuvor hatte die britische Arzneibehörde Medicines and Healthcare products Regulatory Authority (MHRA) grünes Licht gegeben für die Corona-Vakzine, die das Mainzer Unternehmen Biontech in Zusammenarbeit mit dem US-Pharmariesen Pfizer entwickelt hat.

Logistik Die logistische Herausforderung der Impfkampagne ist enorm. Die Arznei wird aus der Pfizer-Fabrik im belgischen Puurs geliefert. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass sie bei einer Temperatur von minus 70 Grad gelagert werden muss. In speziellen, mit Trockeneis ausgekleideten Tiefkühltruhen, wird der Impfstoff in Lastwagen durch den Eurotunnel auf die Insel transportiert. In einem zentralen Depot überprüfen Fachleute zunächst, ob die Qualität im Transit beeinträchtigt worden ist. Wenn alles stimmt, werden die Kisten in rund 70 Krankenhäuser landesweit befördert.

Hier wurden die ersten Dosen gespritzt - angefangen mit Menschen über 80, die am stärksten gefährdet sind. Zu den prioritären Gruppen zählen zudem Pfleger in Altersheimen sowie Mitarbeiter des Gesundheitsdiensts NHS, die direkten Kontakt zu Patienten haben. Wer an der Reihe ist, erhält einen Anruf vom Krankenhaus und wird für einen 15-minütigen Termin gebucht. In einem zweiten Schritt haben eine Woche später ausgewählte Hausarztpraxen mit der Verabreichung des Impfstoffs begonnen. Der NHS will 30.000 freiwillige Helfer rekrutieren und ausbilden, damit sie die Vakzine verabreichen können. Eine Woche nach Anlauf des Programms hat die Regierung bekanntgegeben, dass rund 138.000 Patienten ihre erste Impfung erhalten haben. "Ein wirklich guter Anfang", sagte Nadhim Zahawi, der zuständige Minister im Gesundheitsministerium.

Sicherheit Der Impfstoff wurde in Großbritannien sehr schnell zugelassen, noch vor den USA, der EU und anderen Industrieländern. Das hat manche zweifeln lassen, ob die Briten die Überprüfung womöglich übers Knie gebrochen haben und die Sorgfalt fehlen ließen. Doch die Vorsitzende der MHRA, June Raine, erklärte, dass "keine Kurven geschnitten" worden seien und dass "die Sicherheit der Öffentlichkeit immer zuerst kommt". Die schnelle Zulassung sei möglich gewesen, weil man das Prozedere beschleunigt habe: Während in normalen Zeiten die verschiedenen Stufen hintereinander durchlaufen werden, überlappten sie sich in diesem Fall. Die Behauptung von Gesundheitsminister Matt Hancock hingegen, die frühzeitige Zulassung sei dem Brexit zu verdanken, ist schlichtweg falsch. Unter einer Notverordnung könnte jedes EU-Land auf eigene Faust ein Medikament genehmigen - unabhängig von der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA).

Insgesamt hat das Gesundheitsministerium 40 Millionen Dosen der Biontech-Arznei bestellt; das ist genug für 20 Millionen Briten, denn es sind jeweils zwei Injektionen nötig, bis sich die Immunität einstellt. 800.000 Dosen sollen noch in diesem Jahr gespritzt werden. Die Kosten der Impfkampagne sind beachtlich: Laut Rechnungshof, dem National Audit Office (NAO), hat sie den Fiskus bislang 11,7 Milliarden Pfund gekostet.

Das Gesundheitsministerium setzt nicht nur auf Biontech, sondern hat noch eine ganze Reihe weiterer Impfstoffe vorbestellt. Am wichtigsten ist der von AstraZeneca und der Universität Oxford: Davon haben sich die Briten 100 Millionen Dosen gesichert. Diese Arznei ist laut Tests zwar etwas weniger wirksam, kann dafür aber in einem normalen Kühlschrank gelagert werden. Der Impfstoff könnte schon in den kommenden Wochen zugelassen werden.

Fehlentscheidungen Die Impfkampagne wird noch viele Monate dauern, aber zum ersten Mal sehen die Briten etwas Licht am Horizont. Die Insel ist von der Corona-Pandemie noch schwerer gebeutelt als die meisten anderen europäischen Länder. Bislang sind laut offiziellen Zahlen mehr als 65.000 Menschen am Coronavirus gestorben, rund 18.000 Covid-Patienten liegen im Krankenhaus. In den vergangenen Wochen haben die Neuinfektionen stark zugenommen, insbesondere in London und den umliegenden Gebieten.

Fehlentscheidungen der Regierung haben laut Gesundheitsexperten die Krise verschärft: ein später Shutdown im Frühjahr, eine verfrühte Lockerung im Sommer. Ein Bericht des Thinktanks Institute of Health Equity verweist zudem darauf, dass Ungleichheiten innerhalb der britischen Gesellschaft dazu beigetragen haben, dass die Todesrate so hoch ist.

Die Zulassung des Impfstoffs war denn auch die erste gute Nachricht seit langer Zeit. Allerdings ist die Kampagne auf erste Hindernisse gestoßen. So haben es Dutzende Arztpraxen abgelehnt, die Impfung zu verabreichen. Sie seien schon jetzt überlastet und hätten zu wenige Mitarbeiter, um sich am Programm zu beteiligen. Die Anforderungen sind tatsächlich nicht zu unterschätzen: Hausärzte, die sich am Immunisierungsprogramm beteiligen, müssen an sieben Tagen die Woche von 8.00 Uhr früh bis 20.00 Uhr abends eine Impfstation bereitstellen. Zudem müssen die Patienten fünfzehn Minuten nach Verabreichung der Vakzine überwacht werden. Die neue Regel wurde eingeführt, nachdem einige Patienten allergische Reaktionen gezeigt hatten.

Vorwürfe Zudem ist Kritik laut geworden an der Art und Weise, wie die Regierung die Impfkampagne aufgezogen hat. Als Chefin des Programms fungiert Kate Bingham, eine Risikokapital-Managerin in der Pharmaindustrie und Gattin eines konservativen Abgeordneten. Sie hat kaum Erfahrung mit Vakzinen. Im November enthüllte die Sunday Times, dass Bingham die ansehnliche Summe von 670.000 Pfund für Public Relations ausgegeben hat. Zudem wurde ihr vorgeworfen, sie habe einer Gruppe von US-Investoren sensible Informationen zum britischen Impfprogramm zukommen lassen. Bingham wies die Anschuldigung zurück.

Von größerer Bedeutung für die Bevölkerung ist ein Vorwurf der englischen Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE), bei wichtigen Entscheidungen außen vor geblieben zu sein. Bereits im Juni äußerte PHE Bedenken, dass ihre erfahrenen Mitarbeiter nicht vertreten waren in der Impf-Taskforce, die Bingham anführt. Erst im September wurden sie einbezogen. "Die Organisationen, die wissen, wie man einen Massenimpfkampagne aufzieht, hatten nicht immer einen Sitz am Tisch, wenn Entscheidungen gefällt wurden", sagte die Abgeordnete Meg Hillier, Vorsitzende des parlamentarischen Haushaltsausschusses.

Impfgegner Ein weiteres Problem sind die Impfgegner. Zwar sind die Briten im internationalen Vergleich nicht besonders skeptisch gegenüber Vakzinen. Dennoch besteht die Sorge, dass sich nicht genügend Menschen immunisieren lassen. Um die Verbreitung des Virus einzudämmen, müssen es laut Epidemiologen rund 80 Prozent der Bevölkerung sein. Eine Umfrage hat ergeben, dass sich rund drei Viertel der Briten impfen lassen wollen, wenn es ihnen empfohlen wird, bei Menschen ethnischer Minderheiten sind es nur 57 Prozent.

Dafür sind auch Kampagnen von Impfgegnern verantwortlich, die "sehr gezielt" an manche religiösen und ethnischen Communities gerichtet werden, wie Christina Marriott, Vorsitzende der Royal Society for Public Health, sagt. Dabei sind genau diese Menschen besonders gefährdet. Unter ethnischen Minderheiten ist die Todesrate deutlich höher als im Durchschnitt. Donna Kinnair, Vorsitzende des Pflegerverbands Royal College of Nursing, sagte, sie habe im Krankenhaus "Reihe um Reihe an Patienten aus ethnischen Minderheiten an Beatmungsgeräten gesehen".

Und dann ist da noch der Brexit. Wenn am 31. Dezember die Übergangsfrist zu Ende geht, wird der grenzüberschreitende Handel komplizierter werden, ob mit oder ohne Deal. Am Ärmelkanal ist zusätzlich Bürokratie nötig, das wird zu Verzögerungen führen. In der Grafschaft Kent sind riesige Parkplätze für Lastwagen gebaut worden, um einen Verkehrskollaps abzuwenden. Dennoch werden größere Staus erwartet. Für die Lieferung des Impfstoffs wäre das ein Problem. Laut Notfallplan der Regierung sollen Militärflugzeuge die Arznei aus Belgien einfliegen, wenn es im Eurotunnel zu Verzögerungen kommt.

Der Autor ist Korrespondent in London.