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Thüringen : Ausweg dringend gesucht

Noch ist völlig unklar, wie es in dem Freistaat weitergeht. Die Linke wirbt weiter um Unterstützung

17.02.2020
2023-08-30T12:38:13.7200Z
6 Min

Als an jenem Mittwoch, dem 5. Februar 2020, die ersten Abgeordneten, Journalisten und sonstigen Gäste im Thüringer Landtag eintrafen, da hielten vor der Tür zwei Männer ein weißes Tuch in die Höhe. Darauf stand: "Ohne Ramelow & Co. wird Thüringen wieder froh." Das war so gegen zehn Uhr morgens und hat sich - so viel darf man wohl sagen - eher nicht bewahrheitet. Ungefähr sechs Stunden später marschierten einige Hundert meist junge Menschen vor dem Parlament auf mit einem komplett anderen Anliegen. Auf einem ihrer Plakate stand: "1930 erster Minister der NSDAP, 2020 erste Ministerpräsident mit Stimmen der AfD."

Wie auch immer man die beiden Plakate bewertet, eines ist gewiss: Das Ereignis, auf das sie sich beziehen, markiert einen tiefen Einschnitt nicht nur für Thüringen allein, sondern für die ganze Republik. Das Ereignis ist die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten des Freistaates mit Stimmen von CDU, FDP und AfD - unweigerlich verbunden mit dem Sturz des bisherigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke). Sie hat das Land verändert.

An der Wahl selbst fiel zunächst einmal auf, wie lautlos sie vonstattenging. Nachdem Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linke) um 11.01 Uhr in wenigen Worten das Prozedere erklärt hatte, ging es auch schon los. In alphabetischer Reihenfolge wurden die Abgeordneten an die Urnen gerufen. Dabei stimmten sie im ersten Wahlgang so ab, dass Ramelow die absolute Mehrheit um drei Stimmen verfehlte, während der AfD-Kandidat Christoph Kindervater auffälligerweise drei Stimmen mehr bekam, als die AfD Abgeordnete hat.

Nach einer von der AfD beantragten 30-minütigen Pause folgte der zweite Durchgang. Das Resultat war ähnlich. Zwar errang Ramelow diesmal eine Stimme mehr, wo hingegen Kindervater drei Stimmen weniger errang. Doch es reichte wieder nicht. Die AfD beantragte daraufhin eine weitere Pause für ebenfalls 30 Minuten. Dem schloss sich eine letzte Pause von 20 Minuten an - um die Wahlzettel für den dritten Durchgang zu präparieren. Jetzt kandidierte neben Ramelow und Kindervater nämlich wie vorher angekündigt auch Kemmerich.

Die letzte Pause gab allen Beteiligten Gelegenheit, auf den Fluren, im Raucherhof und in der Kantine ihre Einschätzungen auszutauschen - oder auch ihre inneren Spannungen abzubauen. Unübersehbar war dabei, wie der Optimismus im rot-rot-grünen Ramelow-Lager schwand. Der Sieg Kemmerichs sei nun nicht mehr ausgeschlossen, hieß es. Der SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee stöhnte, als ahne er, was kommen würde: "Statt Klarheit zu schaffen, machen wir jetzt solch einen Scheiß."

Um kurz nach 13 Uhr begann der dritte und entscheidende Wahlgang. Ein letztes Mal wurden die Abgeordneten in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen, holten sich ihre Stimmzettel ab und gingen in die Wahlkabinen. Als Kemmerich an der Reihe war, auf dem Weg zur Urne an Ramelow vorbei lief und anhielt, da klackerten die Auslöser der Fotografen. Spätestens in diesem Augenblick bahnte sich die Sensation an.

Zwar gibt es rückblickend Hinweise darauf, dass sich die an der Wahl Beteiligten aus CDU und FDP der Risiken bewusst waren, die mit einer Kandidatur Kemmerichs einhergingen - dass also die AfD im dritten Wahlgang anstatt geschlossen für ihren Kandidaten zu votieren für Kemmerich stimmen könnte. Manche, so scheint es, handelten in voller Absicht. Bekannt ist, dass die Mitglieder der CDU-Landtagsfraktion auch beim Besuch der Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer zwei Tage später in Erfurt bei sich keinen Fehler erkennen konnten. Nicht absehbar war indes, was danach geschah: dass der Liberale die Wahl annehmen, die Thüringer Linken-Partei- und Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow ihm einen Blumenstrauß vor die Füße werfen und alsbald Demonstranten zum Landtag ziehen und rufen würden: "Nazis raus." Es waren Zeichen einer maximalen Polarisierung.

Seit Kemmerichs erzwungenem Rücktritt ist nun guter Rat teuer. Denn so eine verzwickte Lage in einem vergleichsweise kleinen Bundesland mit so großen Auswirkungen auf das Ganze - die hat die Bundesrepublik Deutschland in ihrer langen Geschichte noch nicht erlebt.

Ramelow, der vom Gang der Ereignisse anfangs sichtlich getroffen war, kam erst nach knapp einer Woche wieder langsam mit Interviews aus der Deckung. Dem 63-Jährigen schwebt nun vor, dass der Landtag ihn zunächst wiederwählt und sich später mit dem Beschluss über einen neuen Landeshaushalt für das Jahr 2021 auflöst. Dies sei "der beste Weg", sagte er der Funke Mediengruppe. Ob es dazu kommt, ist fraglich.

Kemmerich schwänzt Bundesrat Wohl hat Thüringen derzeit keine Regierung, sondern mit Kemmerich einen Ministerpräsidenten, der lediglich geschäftsführend amtiert und aus der Öffentlichkeit de facto verschwunden ist. So nahm der gebürtige Aachener an der Sitzung des Bundesrates am vergangenen Freitag nicht teil - mit der Folge, dass Thüringen dort ohne Sitz und Stimme und entsprechend ohne Einfluss blieb.

Auch sind sämtliche Minister direkt nach Kemmerichs Wahl ausgeschieden. Die Ministerien werden jetzt von beamteten Staatssekretären geführt. Allen ist bewusst, dass dies kein Dauerzustand sein kann. "Das können wir uns schlicht nicht leisten", betonte Ramelow.

Linken-Chefin Hennig-Wellsow bestand aber zuletzt darauf, dass er beim nächsten Mal bereits im ersten Wahlgang durchkommen müsse und nicht erneut bis zum dritten Wahlgang zittern dürfe. Ramelow relativierte dies zwar ein wenig. "Ich bestehe auf gar nichts - nur auf Verantwortung und gute Analyse, was es heißt, sich von der AfD die Agenda diktieren zu lassen", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Ich kandidiere aus Verantwortung für unser Bundesland und bin bereit, gemeinsame Vereinbarungen umzusetzen, um aus ,drei Tollen Tagen nicht ein Tollhaus' werden zu lassen." Diese Relativierung schafft das Problem indes nicht aus der Welt.

Da geheim gewählt wird, müssten für einen Erfolg im ersten Wahlgang mindestens vier Abgeordnete von CDU und/oder FDP zuvor informell zusichern, dass sie dem Linken ihre Stimmen geben werden. Noch lehnt die CDU dies ab. Es vertrüge sich ohnehin bloß bedingt mit dem Prinzip geheimer Wahlen. Noch weniger vertrüge es sich mit der offiziellen Linie der Partei, weder mit der Linken noch mit der AfD in irgendeiner Weise zu kooperieren. Dass die Linke und vor allem Ramelow persönlich vor dem Risiko einer neuen Demütigung zurückschrecken, erscheint andererseits ebenso nachvollziehbar.

Sollte es gelingen, die erste Hürde zu nehmen, stünde die nächste Hürde freilich schon im Weg. Denn während die SPD offensiv Neuwahlen fordert und weder Linke noch Grüne etwas dagegen hätten, können CDU und FDP kein Interesse daran haben. Beide Parteien sind momentan führungslos. Am Freitag kündigte Christdemokrat Mike Mohring seinen Rücktritt als Landesparteichef an. Die CDU muss laut aktueller Umfragen mit einem Absturz rechnen. Die FDP könnte den Wiedereinzug in den Landtag komplett verpassen. Ramelow signalisiert denn auch, dass Neuwahlen nicht vorrangig seien. "Ich würde davon wahrscheinlich mit Blick auf meine persönlichen Beliebtheitswerte und die Werte meiner Partei profitieren", sagte er jetzt. Doch das könne nicht der Maßstab sein.

Wie sich das Knäuel unterschiedlicher Interessen angesichts eines objektiven Zeitdrucks auflösen lässt, darüber herrscht einstweilen Unklarheit. Allein dass eine baldige Auflösung im Interesse der Demokratie liegt, dies halten die meisten Beteiligten für unbestreitbar.

Aufgewühlte Bürger Die Bürger bleiben aufgewühlt. Direkt nach Kemmerichs Wahl wurde spontan nicht nur in Erfurt demonstriert, sondern in zahlreichen weiteren Städten Thüringens. Damit nicht genug: Einen Tag darauf sammelten sich Demonstranten vor der Thüringer Staatskanzlei. Und für den vergangenen Samstag war eine vorläufig letzte Demonstration angekündigt - erneut in der Landeshauptstadt.

Am Abend der Landtagswahl - es war der 27. Oktober 2019 - hatte ein Berliner SPD-Politiker noch erklärt, Landtagswahlen seien nicht so wichtig, weil die Politik letztlich doch im Bundestag gemacht werde. Der Mann hat sich, ohne dass er es hätte ahnen können, gründlich geirrt. Markus Decker

Der Autor ist Hauptstadt-Korrespondent des Redaktionsnetzwerks Deutschland.