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antisemitismus : Hass gegen Unbekannt

Die steigende Zahl antisemitischer Straftaten führt zu Verunsicherung bei Juden

22.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
5 Min

Im Jahr 2020 wurden bei den Berliner Strafverfolgungsbehörden 417 Verfahren mit antisemitischem Hintergrund eingeleitet", erklärt Oberstaatsanwältin Claudia Vanoni. "2019 waren es 386." Vanoni ist seit September 2018 Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin, wo bundesweit die meisten antisemitischen Straftaten erfasst werden. Sie registriert eine deutliche Zunahme von antisemitischen Gewaltdelikten.

Grausamer Höhepunkt dieser besorgniserregenden Entwicklung in Deutschland war der Anschlag am 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle. Am Tag des jüdischen Versöhnungsfestes Jom Kippur beabsichtigte der Attentäter, so viele feiernde und betende jüdische Menschen wie möglich zu töten. Seine Bluttat übertrug er per Helmkamera live ins Internet. Nachdem die unbewachte Tür zum Synagogengelände den Schüssen standgehalten hatte, erschoss er wahllos eine Frau und einen Mann. Zwei weitere Personen wurden schwer verletzt. In seinem Bekennerschreiben gab sich der Täter als Anhänger der Theorie einer jüdischen Weltverschwörung zu erkennen (siehe Artikel unten). Der antisemitische Anschlag von Halle wurde als Zäsur empfunden. Allerdings nicht von der jüdischen Minderheit.

Ständige Bedrohung Levi Salomon, der 1991 als sogenannter "jüdischer Kontingentflüchtling" aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gekommen ist, beobachtet seit 1997 rechtsextreme und antisemitische Tendenzen in der deutschen Gesellschaft. "Damals war das verstärkt die NPD. Aber auch der Islamismus hat mehr und mehr Fuß gefasst. Später sind die so genannten 'Wutbürger' auf die Straße gegangen: Pegida, 'Wir für Deutschland', Reichsbürger."

Mit Gleichgesinnten gründete Salomon 2008 das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus. Seitdem dokumentiert der Verein rechtsextreme, islamistische und rassistische Kundgebungen mit Handkameras und Smartphones. Anschließend stellen sie Material ins Netz. Keine ungefährliche Aufgabe. Salomon und seine Mitstreiter wurden mehrfach angegriffen und bedroht.

Verunsicherung Die steigende Zahl antisemitischer Straftaten führte in den vergangenen vier bis fünf Jahren zu einer starken Verunsicherung unter den circa 200.000 in Deutschland lebenden jüdischen Menschen. Auch der Zuzug von muslimischen Einwanderern beunruhigte die jüdische Gemeinschaft. So warnte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, 2015.: "Wenn man zwanzig oder dreißig Jahre lang mit einem israel- und judenfeindlichen Bild aufgewachsen ist, dann wird man dieses Bild nicht einfach an der deutschen Grenze aufgeben."

2018 filmte in Berlin ein 21-jähriger Kippa tragender Israeli mit seinem Handy, wie er von einem 19-jährigen syrischen Flüchtling unter Beschimpfungen mit einem Gürtel geschlagen wurde. Eltern und Lehrer berichten, dass sich die Formulierung "Du Jude!" als Beleidigung auf Schulhöfen etabliert hat.

Wie rasant sich Antisemitismus als schleichendes Gift in unserer Gesellschaft ausbreitet, wird natürlich zuerst von den jüdischen Mitbürgern wahrgenommen. 44 Prozent der in Europa lebenden Juden haben laut einer Studie vom Dezember 2018 bereits darüber nachgedacht, den Kontinent zu verlassen. Im Juni 2019 warnte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, davor, "überall in Deutschland die Kippa zu tragen".

Das Unbekannte Eine Warnung, die den 31-jährigen Mike Delberg erst darauf brachte, die Kippa als sichtbares Zeichen seiner jüdischen Identität aufzusetzen. Er selbst nennt das eine "positive Offensive". Delberg, der sich auch in der jüdischen Gemeinde und in der Berliner CDU engagiert, ist überzeugt, dass sich Antisemitismus oft gegen das Unbekannte richtet:. "Weil sie halt keine jüdischen Leute kennen. Aber sie bedenken nicht, dass wir keine abstrakten Gestalten, sondern echte Menschen sind und uns das sehr hart trifft, wenn man uns für Dinge verantwortlich macht, für die wir natürlich nichts können."

Fast die Hälfte der antisemitisch motivierten Straftaten findet mittlerweile im Internet statt. Anonym und mit geringem Entdeckungsrisiko lassen Antisemiten dort ihrem Judenhass in Verschwörungstheorien und Vernichtungsphantasien freien Lauf. "Das Besondere im Internet ist, dass sie dort multimodal herüberkommen", erklärte die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel im Deutschlandfunk. "Das heißt, wir haben nicht nur die sprachlichen Äußerungen mit den Morddrohungen und Beschimpfungen und Dämonisierungen, sondern wir haben daneben auch Bilder, Audios und Videos. Das macht das Ganze natürlich nochmal intensiver."

Schwarz-Friesel untersuchte in einer Langzeitstudie Judenfeindschaft im Netz. Dabei beobachtete sie eine erschreckende Radikalisierung. Besonders ausgeprägt sei im Internet der Vernichtungswille in Bezug auf den Staat Israel. "Und das mit einer Hassartikulation, wie man sie sonst im öffentlichen Raum so nicht antrifft."

Kritik an der Siedlungspolitik Israels in den Palästinenser-Gebieten hält laut einer Forsa-Umfrage eine Mehrheit von 71 Prozent der Deutschen für zulässig. Doch wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus? Zur Klärung dieser Frage empfiehlt Oberstaatsanwältin Vanoni den sogenannten 3-D-Test: "Das erste D steht für Dämonisierung, das sind zum Beispiel Vergleiche von Israel mit Nazideutschland. Das zweite D bezeichnet doppelte Standards. Die liegen vor, wenn ausschließlich die Politik Israels kritisiert wird, aber Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern komplett ignoriert werden. Und das dritte D steht für Delegitimierung. Da ist die Kritik dann antisemitisch, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen wird."

Umstrittene BDS-Bewegung Aufgrund solcher Kriterien verurteilte der Bundestag 2019 die sogenannte BDS-Bewegung als antisemitisch. BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen. Die Kampagne richtet sich gegen die Besatzung palästinensischer Gebiete und fordert eine Gleichstellung von Palästinensern in Israel. In seiner Radikalität führe der Boykottaufruf des BDS jedoch zur "Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes", heißt es in der Bundestagsresolution. Der BDS-Bewegung oder Gruppierungen, die die Ziele der Kampagne verfolgen, sei deshalb die finanzielle Unterstützung und die Vergabe von kommunalen Räumen zu verweigern.

Das führte unter anderem dazu, dass die Ehrung der mit dem BDS sympathisierenden Schriftstellerin Kamila Shamsie mit dem Nelly-Sachs-Preis widerrufen wurde. Auch der kamerunische Historiker Achille Mbembe sollte wegen BDS-Nähe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020 ausgeladen werden, die wegen der Pandemie dann aber abgesagt wurde.

Kritik aus der Kulturszene Etliche staatlich finanzierte Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen sehen in der Bundestagserklärung inzwischen eine "Einengung des Diskursraumes". In der gemeinsamen "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" berufen sie sich auf Artikel 5 des Grundgesetzes zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, die durch "missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs" eingeschränkt werde. Hunderte von Künstlern und Wissenschaftlern weltweit teilen diese Kritik. In einem offenen Brief forderten sie den Bundestag dazu auf, "das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu achten, der kürzlich die Kriminalisierung von Israel-bezogenen Boykottaufrufen ablehnte."

Levi Salomon begrüßt hingegen die Bundestagsinitiative zum BDS, der für ihn eine klar antisemitische Bewegung ist. Salomon und seine Mitarbeiter vom Jüdischen Forum sind zurzeit vor allem mit antisemitischen Tendenzen in einer neuen Gruppierung beschäftigt: den Corona-Leugnern.

Im Internet und auf Demonstrationen werden die Auflagen der Bundesregierung zur Corona-Bekämpfung häufig mit der Shoah gleichgesetzt. Bei der Berliner Anti-Corona-Kundgebung am 1. August 2020, bei der auch Holocaustleugner, Rechtsradikale und "Reichsbürger" demonstrierten, wurde Salomon von Ordnern körperlich bedrängt und gezwungen, den Pressebereich zu verlassen. Er hat den Vorgang damals mit seiner Kamera aufgenommen. Auch künftig will er sich nicht davon abhalten lassen, antisemitische Äußerungen zu dokumentieren und öffentlich zu machen. Aus gutem Grund.

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.