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FALL AMRI : Terror unter der Lupe

Drei Jahre lang spürte der Untersuchungsausschuss dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz nach

19.04.2021
2023-08-30T12:39:35.7200Z
8 Min

Manches ist ja auch gelungen. Auf den Fall des Syrers Jaber al-Bakr etwa blickt Hans-Georg Maaßen nach wie vor mit Genugtuung zurück. Seit September 2016 war das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) dem Mann auf der Spur, der schließlich festgenommen wurde, bevor er seinen Plan, den Flughafen Tegel in die Luft zu sprengen, in die Tat umsetzen konnte. Al-Bakr erhängte sich in der Zelle.

Bei seinem Auftritt im Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags am 8. Oktober vorigen Jahres sprach der einstige Verfassungsschutzpräsident Maaßen freilich auch über Aufwand und Kosten. Er erwähnte drei Asylbewerber, deren Sympathie für die Terrororganisation des sogenannten "Islamischen Staats" (IS) den Behörden zunächst nur durch vage Hinweise bekannt geworden sei. Es habe Monate gedauert, das Trio der Planung eines Terrorakts zu überführen. Dafür seien 22.000 Observationsstunden erforderlich gewesen, das Äquivalent der Arbeitsleistung von 137 Beamten in einem ganzen Monat. Bedenke man nun, dass im Jahr 2016 rund 1.600 Verdächtige dem "islamistisch-terroristischen Personenpotential" zuzurechnen gewesen seien, dann sei doch klar: "Es müssen Prioritäten gesetzt werden."

Zwölf Menschen haben ihr Leben verloren, weil sich ein gewisser Anis Amri in entscheidenden Momenten damals keiner behördlichen Priorität erfreute. Am Abend des 19. Dezember 2016 steuerte Amri einen 40 Tonnen schweren, mit Stahlträgern beladenen Sattelschlepper in eine Budengasse des Weihnachtsmarkts auf dem Berliner Breitscheidplatz. Elf Besucher starben. Den polnischen Fahrer hatte Amri erschossen, als er das Fahrzeug kaperte. Mehr als 70 Menschen wurden verletzt; manche trugen bleibende Beeinträchtigungen davon. Vom Täter fehlte jede Spur, bis er 80 Stunden nach dem Anschlag in Norditalien bei einen Schusswechsel mit der Polizei starb.

Alter Bekannter Dass dieser Amri ein alter Bekannter war, begann den Zuständigen zum Zeitpunkt seines Todes schon zu dämmern. Bereits im Frühherbst 2015 war er Mitbewohnern im Flüchtlingsheim der Niederrhein-Stadt Emmerich als rabiater Islamist aufgefallen. Einer, der mit Tiraden über die Allah einzig gefällige Lebensführung nervte und mit seinen Verbindungen zum IS in Libyen prahlte. Die Information gelangte ans zuständige Ausländeramt des Kreises Kleve und von dort zur Polizei in Krefeld, die Ende Oktober 2015 einen "Prüffall Islamismus" anlegte.

Wenig später erschien Amri auch auf dem Radar des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA). Dort bestand seit Sommer 2015 eine Ermittlungskommission (EK) mit dem Codenamen "Ventum". Sie befasste sich im Auftrag des Generalbundesanwalts mit einer Gruppe von Salafisten, die im Ruhrgebiet Rekruten für den Heiligen Krieg in Syrien anwarb. Ihr geistlicher Mentor war der Hildesheimer Prediger Abu Walaa. Der EK "Ventum" war es gelungen, eine hochkarätige "Vertrauensperson", eine "VP" also mit der behördlichen Kennziffer 01, im Umkreis Abu Walaas unterzubringen. Dort begegnete der Informant im November 2015 Amri, der sich mit dem Gedanken trug, Schnellfeuergewehre zu erwerben, um in Deutschland ein Attentat zu verüben. Die VP01 schlug Alarm.

"Wenn ein eingestufter Gefährder in Deutschland einen Anschlag begeht, dann können die Behörden nicht sagen, wir haben alles richtig gemacht": Ein Satz aus dem Mund des Präsidenten des Bundeskriminalamts, Holger Münch. Die Frage, was schief gelaufen ist und wo, hat seit Anfang 2017 zwei Sonderermittler und zwei Landtagsausschüsse in Düsseldorf und Berlin beschäftigt und zuletzt einen Untersuchungsausschuss des Bundestages, der in diesen Wochen sein öffentliches Wirken vorerst beendet hat. Zu klären, ob "unter Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten sachgerechte Maßnahmen ergriffen" wurden und "wer gegebenenfalls für Versäumnisse politische Verantwortung trägt", lautete der Auftrag. Dazu hat das Gremium in 32 Monaten 120 Mal getagt. Vernommen wurden 153 Zeugen; zusätzlich äußerten sich Ende März in einer Sondersitzung drei Sachverständige zur Spurenlage.

Schwarzer Peter Dass der Bundestagsausschuss erst gut 15 Monate nach dem Anschlag zustande kam, als die Welle der öffentlichen Erregung verebbt war, hat seiner Außenwirkung nicht gut getan. In einem breiteren Publikum fand er wenig Beachtung. Umso größer waren zunächst die Erwartungen der Überlebenden und Angehörigen der Opfer des Breitscheidplatz-Attentats. Erfüllt haben sie sich nach deren eigenem Empfinden nicht. In einem Schreiben an den Bundestag bekundeten Betroffene im April 2019 ihre Enttäuschung. Die Rede war von blockierten Beweisanträgen der Opposition, geschwärzten Unterlagen, unergiebigen Befragungen: "Wer war neben dem vermeintlichen Einzeltäter an dem Anschlag beteiligt? Weshalb wurde der Anschlag nicht verhindert, obwohl er hätte verhindert werden können und müssen? (...) Wer übernimmt für das staatliche Versagen die Verantwortung?"

Hier äußerte sich ein Verdacht, der Ende 2019 auch in einer internen Einschätzung der SPD-Fraktion die Formulierung fand: "Im kritischen Rückblick könnte man den Eindruck gewinnen, dass bisher alle beteiligten Institutionen primär damit beschäftigt waren, sich wechselseitig den schwarzen Peter im Nachgang zum Anschlag zuzuschieben." Das war so etwas wie die Arbeitshypothese. Es gab dafür Anhaltspunkte, Äußerungen verantwortlicher Politiker und Behördenchefs aus den ersten Wochen nach dem Attentat, an denen der Ausschuss sich während der gesamten Dauer seiner Tätigkeit abgearbeitet hat.

Etwa die Erklärung des einst obersten Verfassungsschützers Maaßen, Amri sei ein "reiner Polizeifall" gewesen. Sie wurde ihm ebenso wenig geglaubt wie die Behauptung, seine Behörde habe im "Umfeld" des Täters über keine Quelle verfügt. In welchem Umfeld agierte dann der V-Mann des BfV in der Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, von dessen Existenz eine interessierte Öffentlichkeit Anfang 2017 Kenntnis erhielt, fragten die zahlreichen Maaßen-Kritiker. In der Fussilet-Moschee war Amri während seiner Aufenthalte in Berlin regelmäßiger Gast gewesen.

Verkürzt Von Thomas de Maizière (CDU), dem damaligen Innenminister, war das Zitat im Umlauf, außer dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe keine Bundesbehörde mit Amri zu tun gehabt. Auch dies ein klarer Fall von Selbstabsolution, so mochte es scheinen. Tatsächlich hatte sich de Maizière anders ausgedrückt. "Wo war der Bund betroffen", hatte seine Frage gelautet. Die Antwort: "Der Bund war betroffen insbesondere über das Bamf." Aber nicht nur dort. Auch im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) der deutschen Sicherheitsbehörden, in dem der Fall Amri wiederholt zur Sprache kam, sei der Bund beteiligt gewesen und nicht zuletzt bei Amris missglücktem Versuch, Deutschland im Sommer 2016 in Richtung Schweiz zu verlassen, der von der Bundespolizei unterbunden wurde. Ins öffentliche Gedächtnis gefräst hat sich die Kurzfassung des Zitats.

Nicht weniger ausdauernd, als er sich der Widerlegung Maaßens und de Maizières widmete, rieb sich der Ausschuss bis zuletzt an der "Einzeltäterthese". Dass die Ermittler nach eigenem Bekunden in Berlin keinen unmittelbaren Helfer Amris hatten aufspüren können, wandelte sich in den Augen ihrer Kritiker in den Vorwurf, sie hätten sich von vornherein darauf fixiert, Amri als "einsamen Wolf" zu sehen, zumindest nicht mit gehörigem Nachdruck nach Komplizen gefahndet. Immerhin konnten 13 DNA-Spuren am Tatfahrzeug nicht zugeordnet werden. Und bis heute ist unklar, woher Amri seine Waffe hatte und wie er auf der Flucht von Berlin nach Emmerich an der niederländischen Grenze gelangte, wo er am Morgen nach dem Attentat erstmals wieder gesichtet wurde.

Eng verknüpft mit der Frage nach Mittätern war der Fall des Amri-Vertrauten Bilel ben Ammar, der den Ausschuss ebenfalls durchgehend beschäftigte. Ben Ammar hatte den Vorabend des Attentats mit Amri in einem Imbiss verbracht und war danach zehn Tage lang abgetaucht. Bis heute ist unbekannt, wo er sich aufgehalten hat. Dennoch wurde er nach zwei Vernehmungen durch das Bundeskriminalamt (BKA) Anfang 2017 abgeschoben. Die Frage war, warum. Wollte sich jemand eines Mitwissers, womöglich Mittäters, eilends entledigen? Gab es etwas zu vertuschen?

Pseudonyme Hellhörig wurden die Abgeordneten, als im Juni 2018 eine Zeugin berichtete, dass das BKA Amri bereits seit Ende 2015 auf dem Schirm hatte, und zwar als Kontaktperson einer Gruppe von terrorverdächtigen Tunesiern. Die Ermittlungen liefen unter dem Code-Wort "Lacrima", später "Eisbär". Dass es um die Jahreswende 2015/16 gelang, den unter einer Vielzahl von Pseudonymen als Asylbewerber auftretenden Amri zu identifizieren, war ebenfalls ein Erfolg des BKA. Deutlich wurde andererseits auch, dass dort die Kompetenz der in Düsseldorf hochgeschätzten VP01 angezweifelt und Amris Gefährlichkeit geringer veranschlagt wurde als im nordrhein-westfälischen LKA. Interne Mailverkehre belegen massive Vorbehalte gegen die Düsseldorfer Kollegen mit ihrer Amri-Obsession und ihrer VP01.

BfV-Personenakte Erneut ließ im September 2018 eine Zeugin den Ausschuss aufhorchen, die offenbarte, dass es im Bundesamt für Verfassungsschutz seit Januar 2016 eine Personenakte über Amri gab. Kein "reiner Polizeifall" also? Die Zeugin beeilte sich hinzuzufügen, der Inhalt der Akte habe nicht mehr als einen schmalen Leitz-Ordner gefüllt, und in der Folge hörte der Ausschuss Verfassungsschützer am laufenden Band, die beteuerten, "federführend" im Fall Amri sei die Polizei gewesen, und die eigene Behörde nicht mehr als eine Nebendarstellerin. Der V-Mann des BfV in der Fussilet-Moschee habe Amri nicht einmal gekannt, sei also nicht dessen "Umfeld" zuzurechnen.

So mochte Gilbert S., Leitender Regierungsdirektor und im Bundesamt seit 2015 mit der Abwehr radikalislamischer Bestrebungen befasst, zwar nicht mehr von einem "reinen Polizeifall" sprechen. Er habe nie bestritten, betonte S., "dass wir uns operativ mit Amri beschäftigt haben", indes: "Aus meiner Perspektive hat es sich um einen Sachverhalt in polizeilicher Zuständigkeit gehandelt." Bis zuletzt hat sich kein Zeuge gefunden, der Maaßens Behauptung in ihrem Kern öffentlich widersprochen hätte.

Den Fall Ben Ammar haben die Zuständigen, wie der Ausschuss erfuhr, als Dilemma empfunden. Es war ja nicht restlos auszuschließen, dass er mit dem Anschlag doch etwas zu hatte, doch fehlten dafür die harten Beweise. Andererseits galt der Mann als ebenso gefährlich wie Amri selbst. Zwar war es gelungen, ihn unter dem Vorwand eines geringfügigen Sozialhilfebetrugs hinter Gitter zu bringen. Doch mit umso größerer Sorge sahen die Verantwortlichen dem Haftprüfungstermin entgegen. "Wir wollten alles in unserer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Ben Ammar in Deutschland wieder auf freien Fuß kommt", so die damalige Innen-Staatssekretärin Emily Haber. Also wurde er aus der Haft heraus abgeschoben: "Für uns war der ausländerrechtliche Umgang mit dem Fall Amri eine dramatische Warnung, wie dringlich die Durchsetzung der Ausreisepflicht bei Gefährdern ist."

Den Verdacht, an möglichen Komplizen Amris von vornherein nicht interessiert gewesen zu sein, haben Zeugen aus Polizei und Justiz durchweg fast mit Empörung quittiert. "Weder ich noch meine Behörde haben eine Einzeltäterthese vertreten", betonte Ende 2020 Generalbundesanwalt Peter Frank. Es sei doch nicht so, gab Franks Kollege, Bundesanwalt Horst Rüdiger Salzmann, zu bedenken, dass Ermittler mit vorgefassten "Hypothesen" ans Werk gingen: "Die Einzeltäterthese ist keine für einen Staatsanwalt bedeutsame Kategorie."

Unstrittig war ohnehin, dass Amri kein Einzelgänger war. Er war im radikalislamischen Milieu vielfältig vernetzt, mit den Zielpersonen der polizeilichen Operationen "Lacrima" und "Eisbär", mit dem Kreis um Abu Walaa, und obendrein an der Planung eines Sprengstoffanschlags auf das Berliner Gesundbrunnenzentrum beteiligt, was deutsche Behörden allerdings erst 2018 erfuhren. Bekannt war auch, dass Amri spätestens seit November 2016 ermutigt und angeleitet wurde von einem Mentor beim IS in Libyen, Maher D. alias Mouadh Tounsi alias Momol. Gegen ihn besteht seit 2018 ein Haftbefehl wegen Beihilfe. Doch am Tatort Berlin selbst verliefen bisher nach übereinstimmender Darstellung der Beteiligten alle Bemühungen im Sande, Komplizen ausfindig zu machen.

»Vermeidbar« Wo also liegt der Schlüssel zur Erklärung des "Behördenversagens"? Hätte das Bundeskriminalamt die Ermittlungen der EK "Ventum" an sich ziehen sollen, wie deren Leiter ins Gespräch gebracht hatte? War es die Entscheidung der Düsseldorfer, ihre Allzweckwaffe VP01 aus der engen Begleitung Amris zurückzuziehen, als dieser im Frühjahr 2016 seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegte? Wurden die rechtlichen Handhaben falsch eingeschätzt, Amri wegen einer Vielzahl von Delikten hinter Gitter zu bringen?

Für den Zeugen Maaßen war die Sache klar: "Der Anschlag hätte nicht stattfinden müssen. Er war vermeidbar." Maaßens damaliger Dienstherr vermied vor dem Ausschuss den Brustton der Überzeugung. "Alle Attentäter in Europa waren irgendwie vorher bekannt gewesen", sagte Thomas de Maizière. "Ich wage nicht zu sagen, dass der Anschlag sicher hätte verhindert werden können."