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GESCHICHTE : Friedhof der Weltmächte

Die Folgen der britischen und sowjetischen Interventionen sind bis heute spürbar

13.09.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
5 Min

Als im Herbst 2001 US-Präsident George W. Bush gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin die Bitte äußerte, gemeinsam in Afghanistan einzumarschieren, lehnte Putin "aus verständlichen Gründen" ab. 20 Jahre später, am 24 August 2021, bekräftigte der Kreml-Herr seine Politik der Nichteinmischung: Die Sowjetunion habe ihre Erfahrungen in Afghanistan gemacht und "wir haben die notwendigen Lehren aus dem Aufenthalt in diesem Land gezogen".

Rund 200 Jahre zuvor hatte eine andere Großmacht bereits die Hände nach Afghanistan ausgestreckt. Anfang des 19. Jahrhunderts sah das britische Empire die Expansion des russischen Zarenreichs in Zentralasien als eine Bedrohung seiner Herrschaft an. London fürchtete, Moskau erhalte über Afghanistan einen Zugang zum Indischen Ozean und damit die Kontrolle über wichtige Handelsrouten. Das "Great Game" zwischen Briten und Russen hatte begonnen. Ende 1838 starteten die Briten einen ersten Feldzug, um das Land am Hindukusch ihrer Kronkolonie Indien einzuverleiben. Zwei weitere blutige anglo-afghanische Kriege folgten 1879 bis 1880 und 1919. Doch alle Versuche, das Land unter Kontrolle zu bringen, endeten mit einer vernichtenden Niederlage der Briten. Ähnlich wie zuvor in Afrika setzten die Briten auf die Spaltung Afghanistans. So wurde 1893 das Siedlungsgebiet der Paschtunen entlang der sogenannten Durand-Linie geteilt, die bis heute die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan bildet und für Spannungen sorgt.

Unabhängigkeit Ungeachtet eines britischen Vetos verkündete König Amanullah-Khan am 28. Februar 1919 in der Kabuler Moschee die "volle Unabhängigkeit" Afghanistans. Als einer der ersten Staaten erkannte die Sowjetunion die Unabhängigkeit an, lieferte Waffen und stellte dem König eine Million Goldrubel zur Verfügung. Großbritannien hingen wollte ein unabhängiges Afghanistan nicht akzeptieren, intervenierte erneute militärisch und erlitt eine weitere Niederlage. Seitdem gilt die Region als "Graveyard of the Empires" - als Friedhof der Großmächte. Anschließend erlebte Afghanistan fünfzig friedliche Jahre, die durch den Sturz des Königs am 17. Juli 1973 ihr Ende fanden. Ministerpräsident Muhammed Daud rief die Republik und sich selbst zum Präsidenten aus.

Wenige Jahre später gelang es den kommunistischen Kräften mit Hilfe des sowjetischen Geheimdienstes KGB, Daud während der sozialistischen Saur (April) Revolution 1978 zu töten. Danach gründeten sie die "Demokratische Republik Afghanistan" unter Führung des Schriftstellers Nur Mohammed Taraki. Die neuen Machthaber in Kabul, die weiterhin von Moskau unterstützt wurden, begannen einen radikalen Reformprozess: Sie wollten nicht nur die mittelalterlichen, patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen abschaffen, sondern auch das feudale Wirtschaftssystem. Sie erließen den Bauern alle Schulden, um sie aus der Knechtschaft der Großgrundbesitzer und Wucherer zu befreien. Außerdem schafften sie das Brautgeld ab und verteilten Land an die besitzlosen Tagelöhner Land. Zugleich entmachteten die Kommunisten rund 250.000 Mullahs, die als Dorfvorsteher und moralische Autoritäten vor Ort das Sagen hatten. Die Frauen forderten sie auf, die Burka abzulegen und arbeiten zu gehen. Auch dem Analphabetismus sagten die Sozialisten den Kampf an und sorgten dafür, dass Mädchen und Jungen gemeinsam die Schule besuchten.

Diese radikalen Reformen stießen schnell auf den Widerstand der Mullahs und regionaler Führer, die schließlich den "Heiligen Krieg" (Dschihad) gegen die kommunistische Machtelite ausriefen. Der breite Widerstand führte dazu, dass Soldaten der afghanischen Armee massenhaft desertierten und Stammesführer, konservative Studenten und Mullahs das neue Regime unisono als "anti-islamisch" titulierten. Gleichzeitig gründeten sie ethnisch geprägte islamische Parteien und bewaffnete Gruppierungen. Zu den bekannten Feldherren, die den Kampf gegen die "Gottlosen" anführten, gehörten die Paschtunen Gulbuddin Hekmatjar, Pir Gailani und Haqqani, der Hasara Ismail Chan aus Herat sowie die Tadschiken Burhanuddin Rabbani und Ahmed Schah Massud aus dem Pandschir-Tal im Norden von Kabul.

Bürgerkrieg Das Land stürzte in einen blutigen Bürgerkrieg. Am 16. September 1979 wurde Taraki vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Hafizullah Amin ermordet. Amin wiederum wurde von der KGB-Spezialeinheit "Alpha" getötet, als sie am 27. Dezember 1979 seinen Palast in Kabul stürmte und Babrak Karmal als Präsidenten installierte. In einer Radioansprache bat der Tadschike Karmal die Sowjetunion öffentlichkeitswirksam um Unterstützung "zur Rettung der Revolution".

Der einflussreiche KGB-Chef Juri Andropow betrachtete die Entwicklung am Hindukusch als eine Bedrohung der Sowjetunion. Er fürchtete eine "ideologische Sabotage" wie in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968. Um jeden Preis habe Andropow ein "proamerikanisches Afghanistan" verhindern wollen, analysiert der britische Historiker Christopher Andrew. Im Kreml rechnete man damit, dass Washington nach der Islamischen Revolution im Iran einen Stützpunkt in Afghanistan gegen die Sowjetunion errichten würde. Generalsekretär Breschnew genehmigte daher den Einmarsch mit "einem begrenzten Militärkontingent". Wie veröffentlichte Dokumente belegen, hatten KGB-Chef Andropow und Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow Breschnew getäuscht, indem sie einen leicht zu lösenden Auftrag suggerierten und die Risiken herunterspielten.

Am 24. Dezember 1979 lautete die Direktive des Verteidigungsministers an die Rote Armee, dass einige Kontingente der sowjetischen Truppen einmarschieren mit dem Ziel, "dem befreundeten afghanischen Volk internationale Hilfe zu leisten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, mögliche anti-afghanische Aktionen seitens seiner Nachbarstaaten zu verhindern". Einen Tag später marschierte die 40. Armee in Afghanistan ein. Sie bestand aus Reservisten aus den zentralasiatischen muslimischen Republiken, also aus Usbeken, Turkmenen und Tadschiken. Das "Begrenzte Kontingent der sowjetischen Truppen in Afghanistan" (circa 110.000 Soldaten) wurde zunächst in Garnisonen stationiert mit dem Auftrag, Eigensicherung zu betreiben. Erst im März 1980 erhielten die Truppen den Befehl, die aufständischen Mudschaheddin militärisch zu besiegen, wie Generalleutnant Wladimir Bogdanow in seinen Erinnerungen über den "Afghanistan-Krieg 1979-1989" festhält.

Moskaus Niederlage Den Sieg über die Großmacht Sowjetunion verdankten die Mudschaheddin nicht allein ihrem Kampfeswillen, sondern der finanziellen und militärischen Unterstützung der USA. Zu den Waffenlieferungen in Höhe von mehr als sechs Milliarden US-Dollar gehörten Stinger-Luftabwehrraketen, die die sowjetische Armee in die Knie zwangen. Mit den über Pakistan gelieferten Stinger-Raketen gelang es den Mudschaheddin rund 100 sowjetische Flugzeuge und 300 Hubschrauber abzuschießen. Die sowjetischen Truppen erlitten enorme Verluste: Offiziell wurden 13.833 Soldaten getötet und mehr als 50.000 schwer verletzt.

Der neue Generalsekretär Michail Gorbatschow nannte den Krieg "eine offene Wunde" und entschied, die Truppen bis Februar 1989 abzuziehen. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen konnte sich die von Moskau gestützte Regierung unter Präsident Mohammed Nadschibullah nur noch drei Jahre bis zur Einnahme Kabuls 1992 durch die Mudschaheddin halten. Im September 1996 wurde Nadschibullah von den Taliban hingerichtet.

Folgen des Krieges Zu den Folgen der sowjetischen Aggression gehörten mehr als eine Million getötete Afghanen und mehr als fünf Millionen Flüchtlinge. Gleichzeitig erodierte die traditionelle Machtbalance weiter: Während des Widerstands gegen die Sowjetunion hatte sich eine neue Elite erzkonservativer Milizenführer gebildet, die jede Modernisierung des Landes verhinderten. Afghanistan schlitterte in einen erneuten Bürgerkrieg, der von Außen zusätzlich angeheizt wurde.

Der deutsche UN-Sonderbotschafter Norbert Heinrich Holl beklagte denn auch die Ohnmacht der Vereinten Nationen und betonte, es habe ein "Stellvertreterkrieg" begonnen, der das Land vollends spalte: "Wieder stand in Afghanistan ein russisch-iranisch-indisches Zweckbündnis amerikanisch-pakistanischen Interessen in einem unerklärten Krieg gegenüber." Und der amerikanische Journalist George Crile wies darauf hin, wie schnell der US-Kongress sechs Milliarden Dollar für Waffenlieferungen bewilligt hatte, nach dem Abzug der Sowjetunion jedoch keinen Cent für den zivilen Aufbau in Afghanistan erübrigen wollte.