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U-AUSSCHUSS : Handy-Rätsel

Zeugen klären bislang offene Detailfragen im Fall des Terroranschlags vom Berliner Breitscheidplatz

18.01.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
4 Min

Könnten Untersuchungsausschüsse sich ihre Zeugen schnitzen, einer wie der Kriminalhauptkommissar A.S. käme ohne weiteres als Modell in Frage. Einer, dem es erkennbar keine Ruhe lässt, eine Antwort nicht zu wissen. Der sich dann hinsetzt, Akten wälzt und den Dingen nachträglich auf den Grund geht. Der heute 38-jährige Hauptkommissar war nach dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz als Leiter einer Arbeitsgruppe, die sich ausschließlich dem Täter Anis Amri widmete, an den Ermittlungen des Bundeskriminalamts (BKA) beteiligt. Vor dem Untersuchungsausschuss ist er in der vergangenen Woche bereits zum dritten Mal aufgetreten, und bevor es soweit war, hat der Beamte sich das Protokoll der vorherigen Vernehmung am 17. September 2020 nochmals vorgenommen. Er stellte fest: Es waren Fragen offen geblieben.

So eröffnete Kriminalhauptkommissar A.S. seine neuerliche Befragung mit einem Vortrag, in dem er einen nach dem anderen die unklaren Punkte abarbeitete. Etwa, ob Amris Bekannte Leonie R. nach dem Anschlag vernommen wurde. Im September hatte der Zeuge das noch nicht gewusst. Jetzt konnte er sagen: Die Dame wurde am 21. Dezember 2016 von Beamten des Berliner Landeskriminalamts vernommen. Sie habe bestätigt, Amri gekannt zu haben, fünf seiner Mobilfunknummern mitgeteilt und erklärt, ihn Ende September 2016 zuletzt gesehen zu haben.

Die Frage nach dem Zettel mit dem Wort "Hardenbergstraße" aus der Fahrerkabine des Lastwagens, mit dem Amri in den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gerast war. Beim vorigen Mal hatte der Zeuge damit nichts anfangen können. Jetzt weiß er: Ein Schriftprobenvergleich wurde versucht, brachte aber kein Ergebnis. Fingerabdrücke Amris waren auf dem Papier nicht festzustellen.

Foto vom Tatort Die Frage, wie es geschehen konnte, dass sich in Amris HTC-Handy, nach der Tat eingeklemmt hinter der Stoßstange des Lastwagens, ein Foto vom Tatort fand. War es denkbar, das der Täter sich Stunden später nochmals zum Schauplatz geschlichen hat, um zu dokumentieren, was er angerichtet hatte? Die Antwort lautete: Amri nutzte eine Google-Nachrichten-App, die Bilder sensationeller Vorkommnisse automatisch in sein Smartphone spült.

Schließlich die Frage, ob die roten Schuhe, mit denen Amri unmittelbar nach der Tat einer Überwachungskamera am Bahnhof Zoo in die Quere lief, bei der Durchsuchung seines Zimmers gefunden wurden. Anders als beim vorigen Mal wusste der Zeuge jetzt, dass das nicht der Fall war.

Es sind oftmals die winzigen Details, die den Ausschuss über Wochen und Monate beschäftigen. In der vorigen Sitzung war es eine SIM-Karte. Die zugehörige Mobilfunknummer endete mit der Ziffernkombination 936. Erstmals aktiviert wurde sie am 7. November 2016. Zum letzten Mal nachweislich aktiv war sie am 15. Dezember, vier Tage vor dem Anschlag. Gefunden wurde sie in Amris HTC-Handy hinter der Stoßstange. Sie war zu diesem Zeitpunkt indes offenkundig deaktiviert, was bedeutet, dass Amri zumindest mit diesem Mobiltelefon am Tattag nicht im Internet gewesen sein konnte.

Es gibt indes Hinweise, die das Gegenteil belegen. Amri nutzte einen Telegram-Kanal, über den er in der letzten Dreiviertelstunde, bevor er am 19. Dezember 2016 um 20 Uhr in den Weihnachtsmarkt steuerte, Nachrichten mit seinem Terror-Mentor beim Islamischen Staat in Libyen austauschte. Für die Strecke vom Moabiter Friedrich-Krause-Ufer zum Breitscheidplatz bediente er sich des Navigationssystems von Google-Maps. Im Fahrerhaus des Lastwagens wurde noch weiteres stark beschädigtes Mobiltelefon Amris der Marke Samsung gefunden. Bekannt ist, dass die zugehörige SIM-Karte einer Nummer zuzuordnen war, die in der Ziffernfolge 5528 endete. Bekannt ist auch, dass diese Karte am 19. Dezember gegen 16 Uhr aus dem Gerät entfernt wurde und seither verschollen ist. Auf der Fahrt zum Tatort nutzte Amri folglich allein das HTC-Gerät. Dieses hatte zuletzt am 16. Dezember WLAN-Kontakt gehabt. Wie also gelangte Amri ins Netz? Die Ermittler hatten dieser Frage zunächst kaum Beachtung geschenkt, so sicher waren sie gewesen, das Gerät in der Hand zu halten, das Amri bis zuletzt genutzt hatte. Dafür sprachen nicht nur die Spuren des Telegram-Verkehrs mit dem IS-Paten in Libyen. In dem Gerät fanden sich zudem Fotos, die Amri zeigen, und Mobilfunknummern, die Amri oder seinen Kontaktpersonen gehörten, auch eine Kurznachricht: "Ich bin's, Anis."

Es war erst der Untersuchungsausschuss, der den Finger in die Wissenslücke legte. In der Folge vertiefte sich der Zeuge S. in den Sachverhalt und stellte unter anderem fest, dass Amris Mobilfunkanbieter Telefónica auf polizeiliche Anfrage hin die Verkehrsdaten, also Verbindungs- und Standortnachweise, der SIM-Karte mit der Endziffer 936 nur für den Zeitraum bis einschließlich 15. Dezember hatte mitteilen können. Am diesem Tage hatte Amri die Karte für 20 Euro mit einem Datenvolumen von fünf Gigabyte aufgeladen. Der einzig plausible Schluss lautet demnach: Die Karte war entgegen dem Anschein am Tattag doch aktiviert.

"Misslich", ein "Ärgernis" nannte der Zeuge A.S. die Datenlücke. Es komme ihm vor, als fehlte etwas Wichtiges in einem Lego-Bausatz. Indes: "Nach vier Jahren ist es nicht mehr möglich, zu sagen, was damals schiefgelaufen ist."