Piwik Webtracking Image

Amri-Untersuchungsausschuss : Vieles bleibt im Dunkeln

Ex-Minister Jäger wirbt um Verständnis für Behörden

01.02.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
3 Min

Der Satz kam unscheinbar daher. Aber er hatte es in sich. Als wollte da einer den Abschlussbericht vorwegnehmen: "Heute den Eindruck zu erwecken, die Menschen in Nizza, Berlin, London wären gestorben, weil Behörden oder der Staat versagt hätten", sagte Ralf Jäger, ehemaliger Innenminister in Nordrhein-Westfalen, "halte ich für falsch."

Kein Staatsversagen also? Womit haben sich die Abgeordneten dann die ganze Zeit befasst? Wofür haben sie sich abgemüht, 32 lange Monate, in 120 öffentlichen und nichtöffentlichen Sitzungen, oftmals bis Mitternacht? Es ging um die Frage, ob sich der bislang opferreichste radikalislamische Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016 womöglich hätte verhindern lassen. Und woran es gelegen hat, dass dies nicht gelang. Um es in den Worten des Einsetzungsbeschlusses vom 1. März 2018 zu sagen: Zu klären war, ob die Behörden "unter Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten sachgerechte Maßnahmen ergriffen haben" und "wer gegebenenfalls für Versäumnisse politisch Verantwortung trägt".

Zu den damaligen Verantwortungsträgern zählte auch Jäger, der in der vorigen Woche als letzter einer endlos erscheinenden Reihe von 153 Zeuginnen und Zeugen vor dem 1. Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz") auftrat. Bis zum Regierungswechsel in Düsseldorf im Juni 2017 war der Sozialdemokrat fünf Jahre lang für die innere Sicherheit des Landes zuständig gewesen, wo der Attentäter Anis Amri als Asylbewerber gemeldet war, bereits Ende 2015 bei der Polizei durch die Brisanz seiner religiösen Ansichten aktenkundig wurde und einen Großteil seines Deutschland-Aufenthalts verbrachte.

So blieb es nicht aus, dass Jäger nach dem Attentat nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Landtagswahlkampfes unter heftigen Beschuss geriet, obwohl das Düsseldorfer Landeskriminalamt auch nach Feststellungen des Ausschusses die einzige Behörde war, die sich nichts vorzuwerfen hatte. Medien und Oppositionspolitiker beschuldigten Jäger der Untätigkeit und behaupteten, er hätte alle Möglichkeiten gehabt, Amri rechtzeitig zu stoppen. Dagegen verteidigte sich der Minister mit dem Hinweis, er sei in diesem Fall "bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen". So im Landtag zwei Wochen nach dem Attentat: "Die Behörden haben bis an die Grenze des Erlaubten alles getan, was rechtlich möglich war. Trotzdem konnte der schreckliche Anschlag nicht verhindert werden."

Gewiss seien den Zuständigen "fatale Fehleinschätzungen unterlaufen", und sei Amri ein islamistischer Gefährder gewesen, einer von damals 224 allein in Nordrhein-Westfalen. Doch wie hätte man die alle im Auge behalten sollen? Nur einen einzigen rund um die Uhr zu überwachen, erfordere einen Personalaufwand von bis zu 30 Beamten. Und dann sei noch nichts über die in einem Rechtsstaat erheblichen Hürden gesagt, die der lückenlosen Beobachtung eines Verdächtigen im Wege stünden.

So sei es entgegen anderslautenden Behauptungen auch nicht möglich gewesen, gegen Amri eine Abschiebungsanordnung nach Paragraph 58a zu erwirken, was Anfang 2016 in nordrhein-westfälischen Sicherheitskreisen erwogen wurde. Die Bestimmung besagt, dass eine "oberste Landesbehörde" zu dieser Maßnahme greifen kann, wenn "aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose" von einem Ausländer eine "besondere Gefahr" zu befürchten sei.

Gerade von "Tatsachen", so Jäger, habe im Fall Amri damals aber keine Rede sein können. Der Mann sei ein halbes Jahr lang abgehört worden, ohne dass jemals belastbare Erkenntnisse über konkrete Anschlagsplanungen angefallen wären. Der Paragraph 58a sei mit "hohen Voraussetzungen" verbunden und daher eigentlich "unanwendbar" gewesen. Dafür seien die Zuständigen auf einem anderen Wege, dem des Ausländerrechts, ans Ziel gelangt. Amris Asylbegehren sei im Rekordtempo von nur sechs Wochen abgeschmettert worden. Damit war er ebenso "vollziehbar ausreisepflichtig", wie wenn 58a gegen ihn mobilisiert worden wäre. Dass er dennoch nicht verschwand, sei der Hartleibigkeit tunesischer Bürokraten anzulasten.

"Sicherheitsbehörden haben keine Glaskugel", so Jäger. Was wir heute wissen, ahnte damals niemand. So zeige der Fall Amri nur, wie verwundbar Deutschland sei. Ein Terrorist brauche keinen aufwendigen Plan, keine Waffe, kein Geld. Nur Alltagsgegenstände wie einen Lastwagen - und den "krankhaften und widerwärtigen Wunsch, zu töten".