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»Mehr als ein Symbol«

JOHN MANN Der britische Abgeordnete kämpft europaweit gegen Antisemitismus und sieht dabei gerade Europa in der Pflicht

26.01.2009
2023-08-30T11:23:44.7200Z
5 Min

In Deutschland hat es bis 1. Oktober 2008 laut Bundeskriminalamt 1.108 antisemitische Straftaten gegeben. Sie sind Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses gegen Antisemitismus im britischen Unterhaus - dem einzigen in Europa. Wie ist die Lage bei Ihnen?

Die Zahl der Taten ist in etwa vergleichbar, aber die Zahl allein ist nicht immer aussagekräftig. Denn je besser ein System diese Vorfälle erfasst, umso mehr Taten werden auch registriert. So kann die Tatsache, dass mehr Taten registriert werden in gewisser Weise auch positiv sein, weil das, was vorher unbemerkt blieb, aufgezeichnet wird. Das erlaubt uns, Entwicklungen besser zu beobachten und mit entsprechenden Maßnahmen darauf zu reagieren.

Auf Ihre Initiative hin wird vom 15. bis 17. Februar in London eine internationale Parlamentarierkonferenz gegen Antisemitismus mit mehr als 100 Abgeordneten aus 35 Ländern stattfinden. Was kann ein solches Treffen bringen?

Einen Aktionsplan in einem Land zu haben, ist sehr wichtig, aber Antisemitismus macht eben nicht an unseren Grenzen halt. Ich wünsche mir daher, dass die Europäische Union hier stärker zusammenarbeitet, zum Beispiel bei der Strafverfolgung von Rassenhass im Internet. Wir haben in Großbritannien eine sehr erfolgreiche Praxis, gegen solche Websites vorzugehen. Aber es wäre natürlich noch sehr viel besser, wenn es hier einen europäischen Ansatz oder eine europäische Gesetzgebung gäbe.

Der Bundestag hat im November 2008 einen fraktionsübergreifenden Antrag gegen Antisemitismus verabschiedet. Wo sehen Sie die Rolle der Parlamente?

Wenn alle Parteien im Parlament zusammenarbeiten, ist der Druck auf die Regierung größer. Aber schon allein die Tatsache, dass die Parlamentarier die Verantwortung übernehmen, ist mehr als ein Symbol.

Ist der Antisemitismus in den europäischen Ländern derselbe?

Natürlich bestehen dieselben Wurzeln. Die Art und Weise damit umzugehen, ist aber aufgrund verschiedener politischer, kultureller und historischer Gründe sehr unterschiedlich. Daher kann man die Situation in Großbritannien auch nicht mit der in Deutschland vergleichen. Auch in den baltischen Staaten und in Osteuropa ist die Lage eine andere. Dort gibt es große Probleme, die aber bislang weder registriert noch erkannt werden.

Und daher weniger wahrgenommen werden...

Es gibt Staaten, in denen das Problem sehr ernst genommen wird, wie Deutschland und Großbritannien, und die scheinbar ein größeres Problem mit Antisemitismus haben. Ich weiß nicht, ob Großbritannien im Vergleich zu anderen Staaten ein kleineres Problem hat, aber es hat jedenfalls kein größeres. Entscheidend ist: Wir gehen ehrlicher mit dem Problem um und handeln.

Apropos handeln: Werden Sie von der Europäischen Union unterstützt?

Es ist ein wichtiges Ziel, die Europäische Kommission mit einzubeziehen, denn sie könnte mehr tun. Ich erkenne viel Bereitschaft beim Europäischen Parlament, aber es ist eben nicht so mächtig wie die Kommission.

Wird die EU-Kommission auf der Londoner Konferenz vertreten sein?

Wir haben die EU-Kommission eingeladen. Wenn niemand kommt, wird ihr Stuhl leer bleiben, so dass es jeder sehen kann. Ich weiß aus Gesprächen, dass es in Brüssel viele Menschen gibt, die das Problem sehr ernst nehmen, aber sie müssen mit gutem Beispiel vorangehen.









Haben Sie den Eindruck, dass nach dem Konflikt in Gaza antisemitische Vorfälle zugenommen haben?

Ja, es gab Vorfälle. Allerdings ist es schwierig, daraus einen Zuwachs antisemitischer Gefühle abzuleiten. Das wäre zu früh. Ich glaube vielmehr, es wurde bei diesem Anlass den Gefühlen Ausdruck verliehen, die ohnehin bereits da sind. Aber uns interessiert eigentlich mehr, was der generelle Trend ist.

Und wie sieht dieser Trend in Großbritannien aus?

Der Antisemitismus bleibt nach unseren Beobachtungen in etwa gleich, er nimmt weder ab noch zu. Aber die entscheidende Frage ist doch, warum der Antisemitismus nicht abnimmt. Das Parlament und die Regierung nehmen das Thema jedenfalls sehr ernst und wir haben einen detaillierten Aktionsplan, um die Entwicklung zu beobachten und zu evaluieren.

Wenn über Israel und den Zionismus gesprochen wird, verbergen sich dahinter teilweise auch antisemitische Einstellungen. Wo ist für Sie die Grenze zwischen einer Kritik an israelischer Politik und Antisemitismus?

Einige Menschen sind in ihrem Sprachgebrauch einfach ignorant oder nicht sorgfältig, andere sprechen auch sehr bewusst und kalkuliert. Wenn jemand Israel unterstützt, ist das ein legitimer Standpunkt. Das gleiche gilt, wenn jemand Kritik an Israel übt. Aber wenn die Grenzen zwischen beiden bewusst und kalkuliert verschwimmen und man in Stereotype und Vorurteile verfällt, ist das nicht akzeptabel.

Aber es gibt ja ganz verschiedene Formen von Antisemitismus?

Es gibt einen traditionellen Antisemitismus aus der rechten Ecke. Zweitens einen Antisemitismus von links, der bereits 100 Jahre besteht und wieder verstärkt auftritt. Aber es gibt auch einen Antisemitismus, der sehr viel jünger ist und von der muslimischen Gemeinde ausgeht.

Wie erklären Sie sich das?

Zwischen der muslimischen und der jüdischen Gemeinde gibt es große geografische, politische, soziale und kulturelle Unterschiede. Beide Gemeinden sind unterschiedlich integriert: Die jüdischen Gemeinden sind seit mehr als 350 Jahren hier - die meisten mehr als 150 Jahre - und die muslimischen Gemeinden erst 40 Jahre. Sie sind oft weit voneinander entfernt, so dass es kein tägliches Zusammenleben, keinen Kontakt gibt. Unkenntnis oder auch Ignoranz sind wichtige Faktoren. Sie ist der Boden für Vorurteile.

Wie können beide Gemeinden besser zusammenarbeiten?

Es gehört zu unseren großen Aufgaben, dafür Vorschläge zu erarbeiten. Die meisten muslimischen Gemeinden haben keine erkennbare Struktur, wer für was zuständig ist. Daher können viele in diesen Gemeinden eine Führungsrolle für sich in Anspruch nehmen. Wir haben bislang zu stark auf die religiösen Führer gesetzt. Die meisten Briten sind aber gar nicht religiös. Wir brauchen meiner Meinung nach Ideen und Gedanken, die über das Religiöse hinausgehen.

Doch Antisemitismus taucht nach Ihren Untersuchungen auch noch an ganz anderen Orten auf - zum Beispiel beim Sport?

Ja, es gibt einen zunehmenden Antisemitismus im Sport. Nazigruppen in ganz Europa haben den Fußball für sich wiederentdeckt. Fußballwettbewerbe ermöglichen es Nazigruppen über Ländergrenzen hinweg zu agieren. Das Internet unterstützt diese Praxis: Auf Youtube wird die Nazi-Gewalt bei Fußballspielen verherrlicht.

Was kann man dagegen tun?

Neulich hat eine Schiedsrichterin bei einem Spiel der fünften Liga in Deutschland ein Spiel wegen antisemitischer Äußerungen abgebrochen. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel, wie der Fußball mit einem solchen Problem umgehen sollte.

Was kann jeder einzelne gegen Antisemitismus tun?

Jeder kann sich Vorurteilen entgegenstellen, wo sie verbreitet werden. Aber ich denke, dass die gewählten Vertreter, sei es im Bundestag oder auch im Unterhaus, hier eine ganz besondere Verantwortung haben.

Das Interview führte Annette Sach.

John Mann, Jahrgang 1960, sitzt seit 2001 für die Labour-Party im britischen

Parlament. Seit 2005 ist er dort

Vorsitzender des

Ausschusses gegen Antisemitismus.