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»Ungewöhnlich und unerwartet«

Ungarn Andreas Oplatkas Studie über die Öffnung des Eisernen Vorhangs im Sommer 1989

09.03.2009
2023-08-30T11:23:48.7200Z
3 Min

Ungarn sind gute Menschen", stellte der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, nach einer langen Pause fest. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte ihn angerufen und ihm berichtet, dass er zuvor mit Ministerpräsident Miklós Németh über die Ausreise der DDR-Flüchtlinge aus Ungarn verhandelt habe. Das Telefonat fand am 25. August 1989 statt, nach einem Geheimtreffen mit Németh in Schloß Gymnich bei Bonn. Dabei sagte Deutschland den Ungarn einen Kredit von 500 Millionen D-Mark zu. Obwohl der deutsche Regierungschef von Németh eine Zusage für die Öffnung der Grenze bekommen hatte, informierte er Moskau. Helmut Kohl wollte auf Nummer sicher gehen und wegen der Flüchtlingsfrage die Beziehungen zum Kreml nicht gefährden, zumal die Sowjetunion Truppen sowohl in der DDR als auch in Ungarn stationiert hatte. Mit seiner Bitte, die Flüchtlingsfrage diskret zu behandeln, erteilte Gorbatschow indirekt seine "Genehmigung". Etwas anderes blieb ihm auch kaum übrig: Die Sowjetunion und der Ostblock standen vor dem Kollaps und langsam verlor Moskau den Überblick.

Als "ungewöhnlich und bis zu einem gewissen Maß unerwartet" kommentierte das sowjetische Außenministerium am 12. September 1989 den Schritt Ungarns, den DDR-Flüchtlingen bei ihrer Ausreise behilflich zu sein. Über ungarisches Territorium gelangten bis zum 5. November knapp 50.000 Ost-Deutsche in den Westen. Der medienwirksamen Flucht waren monatelange politische Machtkämpfe in Ungarn sowie diplomatische Geheimaktionen vorausgegangen. Gleichwohl war die Grenzöffnung nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtbild des zerfallenden Ostblocks.

Erschöpftes System

Andreas Oplatka, Autor des Buches "Der erste Riss in der Mauer", wurde 1942 in Budapest geboren und gelangte 1956 in die Schweiz. Er studierte Geschichtswissenschaft und arbeitete 20 Jahre lang als Redakteur der "Neuen Zürcher Zeitung". Für seine Studie analysierte er nicht nur die Quellen, sondern führte zudem rund 70 Interviews mit Entscheidungsträgern und nähert sich so der in Deutschland weniger bekannten ungarischen Perspektive auf die Ereignisse des Schicksalsjahres 1989. Zugleich bezieht er die wirtschaftliche und ideologische "Erschöpfung" des sozialistischen Systems in seine Analyse ein. Herausgekommen ist ein Lesegenuss, denn Oplatka verfügt nicht nur über fundamentale Kenntnisse, sondern auch über einen kurzweiligen Schreibstil.

Auch die Neugier des Lesers wird befriedigt: Er erfährt von der Existenz eines streng geheimen und handschriftlich verfassten Vertrages über die Stationierung von Atomwaffen in Ungarn. Bescheid wussten lediglich drei ungarische Politiker. Nach seinem Amtsantritt durfte Ministerpräsident Németh den Vertrag nur im Keller des Verteidigungsministeriums lesen. Wo die Raketen stationiert waren, erfuhr die ungarische Regierung nicht. Als Németh Gorbatschow im März 1989 aufforderte, die Nuklearwaffen aus Ungarn abzuziehen, bat der Präsident ihn um etwas Geduld. Einige Monate später war Németh dann "angenehm überrascht", dass Moskau seinen Wunsch erfüllt hatte.

Abgesehen von diesen pikanten Details aus dem Kalten Krieg zeichnet der Autor den aktuellen ungarischen Streit über die Frage nach, wem die Hauptrolle bei der Zerstörung des Kommunismus und der deutschen Wiedervereinigung zukommt. Oplatka stellt fest, dass Ministerpräsident Miklós Németh die Verantwortung für die Öffnung der Grenze und die Ausreise der DDR Bürger übernahm. Der Ungar ist so ehrlich, dass er im Unterschied zu Gorbatschow seine Motive nachträglich nicht schönfärbt: Die Entscheidung zur Zerstörung der Grenzanlagen habe er nicht wegen "Demokratie und Menschenrechten" getroffen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Sie seien einfach zu alt und zu teuer ge- wesen.

Andreas Oplatka:

Der erste Riss in der Mauer. September 1989 - Ungarn öffnet die Grenze.

Paul Zsolnay Verlag, München 2009; 303 S., 21,50 €