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Eine Reise in die befremdliche Welt des Heils

Religion Oda Lambrecht und Christian Baars über den steigenden Einfluss bibeltreuer Evangelikaler in Deutschland

30.03.2009
2023-08-30T11:23:51.7200Z
4 Min

Heilungstage, Heilungszeugnisse, Heilungsversprechen, Heilungsdienst, Heilungsnachmittag: Nirgends gibt es soviel Heil wie in der Welt der bibeltreuen Evangelikalen. Evangelikal, vom englischen Begriff "evangelical", bezeichnet dabei im deutschen Sprachgebrauch eine bestimmte Gruppe evangelischer Christen: Diejenige, die die Bibel nicht - wie die theologische Wissenschaft - historisch-kritisch auslegen, sondern ihre Texte gewissermaßen eins zu eins nimmt, als Handreichung für den Alltag. Ihr aktuelles Buch über die deutschen Evangelikalen nennen die Hamburger ARD-Journalisten Oda Lambrecht und Christian Baars: "Mission Gottesreich".

Kaum eine religiöse Bewegung ist - in nah und fern - derzeit so erfolgreich wie die bibeltreuen Evangelikalen. Seit 1970 hat sich ihre Zahl weltweit auf über eine halbe Milliarde verdoppelt. Nach den Katholiken sind sie damit die zweitstärkste christliche Gruppe. Auch in Deutschland haben sie Zulauf und zählen mittlerweile mehr als 1,3 Millionen Gläubige.

Dichotomisches Weltbild

In diese Welt sind Lambrecht und Baars hineingestiegen wie Ethnologen. Sie haben Prediger, Funktionäre, Mitläufer und Kritiker interviewt, haben Veranstaltungen von charismatischen Pfingstlern und anderen besucht, Dämonenglauben und Exorzismus entdeckt. Die Journalisten fanden zumeist ein einfaches, in sich geschlossenes, dichotomisches Weltbild. Da gibt es nur: Gut oder Böse, Gesund oder Krank, Himmel oder Hölle, Christ oder Antichrist - und Versuchungen allerorten. So beschreiben sie dezidiert die dort vorherrschende Sexualmoral: Selbstbefriedigung sei in den Augen der christlichen Fundamentalisten Sünde, Sexualität vor der Ehe verwerflich und Homosexualität eine Krankheit, die es zu heilen gelte. Sie berichten von den Nöten und Bedrängnissen, denen "Anderslebende", also etwa Schwule ausgesetzt sind, gar von Selbstmordversuchen.

Natürlich, so die Autoren, gebe es unter den Evangelikalen Unterschiede. Viele Bibeltreue gehörten zu den evangelischen Landeskirchen, seien kaum von anderen Christen zu unterscheiden. Andere aber seien in ihrem Weltverständnis derart autoritär, dass sie in den regelmäßigen Berichten der offiziellen Sektenbeauftragten vorkämen. Und es gebe bei aller Differenzierung viele Gemeinsamkeiten. Dazu zähle die mehr oder weniger harsche Ablehnung anderer Religionen, insbesondere des Islam. So lautet eine Überschrift in der evangelikalen Zeitschrift "Idea": "Muslimische Unterwanderung gefährlicher als Terrorismus".

Lambrecht und Baars machen keinen Hehl daraus, dass sie die Welt, aus der sie berichten, befremdet. Zwar fanden sie bei ihrer Recherche viel Begeisterung, Menschen, die die Emotionalität der Gottesdienste und den Zusammenhalt der Gruppe besonders hervorhoben. Aber es gibt eben auch andere, Aussteiger, die dem offenen oder subtilen internen Druck nur durch den rettenden Schritt in eine Therapie entgehen konnten.

Auf dem deutschen Buchmarkt gibt es viele äußerst kritische Abhandlungen über die Rolle christlich-konservativer Prediger in den USA, aber kaum eine über die Evangelikalen im eigenen Land. Dabei sind sie, glaubt man den Autoren, keineswegs einflusslos. Die Evangelikalen verfügen hierzulande über Verlage, Pressedienste, Internetplattformen, Radiosender und - wie im Falle von Bibel TV - gar über einen eigenen Fernsehsender. Sie sind modern, gut vernetzt, verfügen mit der "Evangelikalen Allianz" über einen Dachverband mit einem offiziellen Lobbyvertreter in Berlin, der sich Gehör verschafft.

Ablehnung der Evolution

Behörden haben es zudem immer häufiger mit "Bekenntnisschulen" zu tun, in deren Biologie-unterricht die Evolution öffentlich in Zweifel gezogen wird. Außerdem lehnen bibeltreue Eltern es immer häufiger ab, ihre Kinder in öffentliche Schulen zu schicken. Es könnte ja sein, so deren Befürchtung, dass sie dort von "geschiedenen Lehrerinnen" unterrichtet werden. Ihnen steht der Verein "Schulunterricht zu Hause" zur Seite.

Und wie steht die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) zu den Evangelikalen? Die Autoren legen dar, dass der Zulauf zu den Evangelikalen und der schleichende Bedeutungsverlust im eigenen Lager bei der großen evangelischen Volkskirche offenbar zum Umdenken geführt hat. Das Verhältnis habe sich entspannt, hörten sie des Öfteren. Die evangelikale Zeitschrift "Idea" wählte den EKD-Ratsvorsitzenden Bischof Wolfgang Huber 2006 zum "Bischof des Jahres". Bei großen Missionierungsveranstaltungen wie "Christival" arbeitet man zusammen. Am 2006 veröffentlichten, intern durchaus heftig kritisierten, "Islam-Papier der Evangelische Kirche in Deutschland" durfte auch eine führende Evangelikale mitschreiben. "Idea" freute sich: "EKD beeendet Schmusekurs gegenüber dem Islam."

Das vorliegende Buch überzeugt nicht zuletzt durch seine Reportageteile, liest sich gut, ist ausgesprochen informativ und mit Zitathinweisen gespickt. Es breitet aus, was man bei intensiver Recherche über die Evangelikalen in Deutschland aus allgemein zugänglichen Quellen in Erfahrung bringen kann. Das Fazit der Autoren ist ungemütlich: Hier schickt sich eine gut vernetzte Glaubensgemeinschaft, eine, die "Minderheiten diskriminiere und gegen Andersgläubige hetze", an, mit zunehmendem Erfolg Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen.

Oda Lambrecht, Christian Baars:

Mission Gottesreich.Fundamentalistische Christen in Deutschland.

Ch. Links Verlag, Berlin 2009; 246 S., 16,90 €