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Kurz Rezensiert : Angelesen

29.06.2009
2023-08-30T11:24:01.7200Z
5 Min

Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener Ifo-Instituts, versteht sich als "Ordoliberaler". Wenn er jetzt davon spricht, dass die westliche Welt vor dem Ende des privatwirtschaftlichen Banksystems steht, lässt dies aufhorchen. Zwar werde es keine weiteren Bankzusammenbrüche mehr geben, denn die Rettungspakete seien überall groß genug. Doch stünden die USA und mit ihnen auch andere Länder vor einer großflächigen Verstaatlichung ihrer Banksysteme.

Für Deutschland macht Sinn eine ernüchternde Rechnung auf: Fast alle Banken seien unterfinanziert. Das gelte neben der Hypo-Real Estate besonders für die Landesbanken aber auch für Commerz- und Postbank. Statt aber die Eigenkapitaldecke durch staatliche Hilfen aufzustocken, zögen es die Banken vor, ihre Bilanzen durch eine Reduzierung ihrer Kredite wieder in Ordnung zu bringen. So sparten sie sich so auf Kosten der übrigen Wirtschaft gesund. Sein drastisches Fazit: Der Staat müsse die Banken zu ihrem Glück zwingen und Miteigentümer werden. Wer hätte solche Forderungen aus dem Mund eines "Ordoliberalen" für möglich gehalten?

Hans-Werner Sinn:

Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist.

Econ-Verlag 2009, Berlin 2009; 340 S., 22,90 €

Peter Bofinger ist Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung und einer der wenigen deutschen Spitzenökonomen, der für eine Nachfragepolitik à la Keynes steht. Sein Buch ist ein einziges großes Plädoyer für eine gänzlich neue Balance zwischen Markt und Staat im Zeichen der Krise. Dazu gehört für ihn, dass der Staat in der Öffentlichkeit nicht nur als Steuergelder verschlingendes Monstrum diffamiert, sondern vielmehr als einzig wirkungsvolle Interessenvertretung der Menschen in der globalisierten Welt wahrgenommen wird. Der Steuerstaat müsse, so Bofinger, gegen die Schuldenangst der Menschen verteidigt werden. Dass Bofinger vor einer weiteren Erosion des Flächentarifvertrages warnt, gegen weitere Lohnzurückhaltung ist und für einen generellen Mindestlohn eintritt ist nicht neu - aber selten klang die Vorhersage eines deutschen Spitzenökonomen so düster, dass das Marktversagen der letzten eineinhalb Jahre mit einem weiteren Fortschreiten der Krise in der Realwirtschaft sehr schnell in ein Politikversagen und damit in eine handfeste Krise der Demokratie umschlagen kann.

Peter Bofinger:

Ist der Markt noch zu retten? Warum wir jetzt einen starken Staat brauchen.

EconVerlag, Berlin 2009; 256 S., 19,90 €

Über das brutale Vorgehen des iranischen Staates gegen die Demonstrierenden in den Straßen von Teheran, die auf demokratische Wahlen dringen, sollte niemand verwundert sein. Die Lektüre des "Amnesty International Report 2009" lässt keinen Zweifel daran, wessen Geistes Kind dieses Regime ist: Gegen Menschenrechtler, Frauenrechtlerinnen oder Befürworter von Minderheitenrechten gehen die iranischen Behörden stets mit äußerster Härte vor. Häftlinge werden nach Angaben von Amnesty geprügelt und gefoltert - selbst Amputationsstrafen werden verhängt. 346 Menschen, unter ihnen acht Jugendliche, wurden 2008 hingerichtet. Die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sind strikten Einschränkungen unterworfen.

In 157 Länder hat Amnesty International die Menschenrechtssituation unter die Lupe genommen - unabhängig davon, ob es sich um Diktaturen oder Demokratien handelt. Der jährliche Report über die weltweiten Menschrechtsverletzungen ist unverzichtbar - auch wenn man gerne auf ihn verzichten würde.

Amnesty International Report 2009. Zur weltweiten Lage der Menschenrechte.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009; 542 S., 14,95 €

Warum sie hilft, kann sie nicht genau sagen. Sie wundert sich darüber, dass sie überhaupt danach gefragt wird. Und dann hat sie doch eine Antwort: "ich bin empört. ich bin empört über die zustände in dieser welt." Deshalb hilft die Frau den Illegalen in München, deren Zahl sie auf über 30.000 schätzt.

In Björn Bickers Buch "illegal. wir sind viele. wir sind da.", das ohne ersichtlichen Grund ohne Großschreibung auskommen muss, denken zwei Männer aus Kurdistan und der Ukraine und eine Frau aus Ecuador über ihr Leben nach, warum sie ohne Papiere und mit den entsprechenden Konsequenzen in Deutschland leben. Kranksein können sie sich nicht leisten. Bei jedem Arztbesuch könnten sie auffliegen. Wenn sie keinen Lohn bekommen für ihre Arbeit als Gärtner, Kindermädchen, Umzugshelfer, beschweren sie sich nicht. Sie sind abhängig vom guten Wille ihrer Arbeitgeber. Warum dann dieses "unsichtbare" Leben? Weil sie in ihren Heimatländern noch weniger Perspektiven haben, verfolgt oder gefoltert wurden.

"wir schicken dreihundert euro. wir ernähren schwestern brüder mütter väter. wir fehlen zuhause nicht." Ihre Familien wissen meist gar nicht, dass sie in Deutschland ein Leben im Verborgenen führen. Der Leser bekommt einen Eindruck davon.

Björn Bicker

Illegal.

Wir sind viele.

Wir sind da.

Verlag

Antje Kunstmann 128 S. 14,90 €

Dass der Anspruch einer Verfassung nicht zwangsläufig mit der gelebten Wirklichkeit übereinstimmen muss, ist hinlänglich bekannt. Und die Feiern zu 60 Jahren Grundgesetz sind ein guter Anlass, die Verfassungswirklichkeit einer Überprüfung zu unterziehen. Der seit 1997 jährlich erscheinende "Grundrechte-Report" tut dies stets sehr kritisch. Die Herausgeber - neun deutsche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen - verstehen diesen Report als einen "alternativen Verfassungsschutzbericht".

Wie bereits im vergangenen Jahr steht auch diesmal der Datenschutz beziehungsweise seine schleichende Aushöhlung ganz oben auf der Agenda des Reports. Bespitzelungen von Mitarbeitern durch die eigene Firma - siehe Lidl oder Deutsche Bahn -, oder die wachsende Datensammelwut des Staates - siehe Online-Durchsuchungen - sind nur zwei Stichworte. Kritisch hinterfragt werden sollten jedoch nicht nur Eingriffe von Seiten des Staats oder der Wirtschaft in den Datenschutz. Auch die weit verbreitete Bereitschaft, persönlichste Daten freiwillig im Internet zu publizieren, hätte in einem eigenen Beitrag dargestellt werden sollen. Denn auch ein freiwillig verschenktes Grundrecht ist ein verlorenes Grundrecht.

Grundrechte-Report 2009. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2009; 272 S., 9,95 €