Piwik Webtracking Image

Kurz notiert

21.09.2009
2023-08-30T11:24:08.7200Z
18 Min

Aktives Wahlrecht: Das Recht abzustimmen

Wählen darf jeder deutsche Staatsbürger, der am Wahltag mindestens 18 Jahre alt ist und seit mindestens drei Monaten im Bundesgebiet wohnt. Auch Deutsche im Ausland dürfen wählen, wenn sie einmal drei Monate lang ununterbrochen im Bundesgebiet gewohnt haben. Das Wahlrecht wird nur in Ausnahmefällen entzogen: so zum Beispiel als Strafe bei besonders schweren Verbrechen oder bei Personen, für die eine "Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten" eingerichtet ist. Zur Wahl des 17. Bundestages 2009 sind rund 62,2 Millionen Deutsche berechtigt. Sie setzen sich aus 32,2 Millionen Frauen und 30 Millionen Männern zusammen. 3,5 Millionen Menschen dürfen zum ersten Mal den Bundestag wählen.

Passives Wahlrecht: Wählbarkeit

Wählbar ist jeder deutsche Staatsbürger, der am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat. Wem das aktive Wahlrecht entzogen wurde, ist auch selber nicht wählbar. Wer sich um einen Sitz im Bundestag bewerben will, muss sich von einer Partei im Wahlkreis oder auf einer Landesliste aufstellen lassen. Alternativ müssen mindestens 200 wahlberechtigte Bürger aus dem Wahlkreis ihn zur Wahl vorschlagen. Dieser Vorschlag wird von den Wahlbehörden auf seine Korrektheit überprüft. Zur Wahl des 17. Bundestages 2009 haben sich 3.556 Bewerber zur Wahl aufstellen lassen.

Wahlgrundsätze

Artikel 38 des Grundgesetzes fomuliert fünf Wahlgrundsätze. Dort heißt es: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt." "Allgemein" bedeutet, dass Wahlberechtigte unabhängig von Geschlecht, Rasse, Konfession oder anderen Kriterien wählen dürfen. "Unmittelbar" meint, dass die Abgeordneten direkt, also ohne die Zwischenschaltung beispielsweise von Wahlmännern, gewählt werden. "Frei" sagt aus, dass kein Druck auf den Wähler ausgeübt werden darf. "Gleich" bedeutet, dass jede Stimme das gleiche Gewicht für die Zusammensetzung des Bundestages hat und nicht von Faktoren wie Besitz, Einkommen, Geschlecht oder anderen Kriterien abhängig gemacht wird. Der Grundsatz der geheimen Wahl sagt aus, dass keiner die Wahlentscheidung eines anderen kontrollieren darf.

Briefwahl

Wer am Wahltag verreist oder anderweitig verhindert ist, kann seine Stimme auch per Briefwahl abgeben. Bei der Bundestagswahl

2005 belief sich die Zahl der Briefwähler auf knapp neun Millionen (rund 18,7 Prozent). Grund für die ständig steigende Zahl ist die zunehmende Mobilität. Unterlagen für eine Briefwahl können ohne Angabe von Gründen beantragt werden. Erkrankte können sie sogar am Wahltag bis 15 Uhr anfordern. Damit das Wahlgeheimnis gewahrt bleibt, muss der Abstimmende schriftlich an Eides statt erklären, dass er den Stimmzettel persönlich und ohne fremde Hilfe angekreuzt hat. Wahlbriefe werden unentgeltlich von der Post befördert.

Wahlkreis

Deutschland ist in 299 Wahlkreise eingeteilt, aus denen jeweils ein Abgeordneter direkt in den Bundestag gewählt wird. In Paragraph 3 des Bundeswahlgesetzes ist festgelegt, was bei der Einteilung der Wahlkreise zu beachten ist. Die Wahlkreise sollten etwa gleich viele wahlberechtigte Einwohner haben; die Abweichung vom Durchschnitt sollte nicht mehr als 15 Prozent und darf nicht mehr als 25 Prozent betragen. Der Zuschnitt der Wahlkreise kann einen großen Einfluss auf die Vergabe der Direktmandate haben. Es würde dem Gleichheitsgrundsatz deshalb widersprechen, wenn eine Stimme in einem kleinen Wahlkreis mehr Gewicht hätte als eine in einem großen Wahlkreis. Für die Neueinteilung der Wahlkreise ist die Wahlkreiskommission zuständig.

Bundeswahlleiter

Der Bundeswahlleiter wird vom Bundesministerium des Innern auf unbestimmte Zeit ernannt. In Fortführung einer Tradition, die bis zu den Reichstagswahlen zurückreicht, wird der Präsident des Statistischen Bundesamtes mit den Aufgaben des Bundeswahlleiters betraut. Zu seinen Aufgaben als unabhängiges Wahlorgan gehören das Organisieren, Durchführen und Überwachen der Bundestagswahlen und der Wahlen zum Europäischen Parlament in Deutschland. Der Bundeswahlausschuss, dem der Bundeswahlleiter vorsitzt, entscheidet auch, welche Vereinigungen als Parteien anerkannt und zur Wahl zugelassen werden. Am Wahlabend gibt der Bundeswahlleiter das vorläufige amtliche Endergebnis bekannt. Seit dem 1. August 2008 bekleidet Roderich Egeler dieses Amt.

Erststimme: Direktkandidat

Bei der personalisierten Verhältniswahl in Deutschland hat jeder Wähler zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählt er den Direktkandidaten in seinem Wahlkreis. Er bestimmt also, wer ihn im Parlament vertreten soll. Der Kandidat, der im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält - es genügt also die relative Mahrheit - gewinnt das Direktmandat und ist automatisch zum Bundestagsabgeordneten gewählt. Diese direkte Wahl soll für eine stärkere Verankerung der Abgeordneten in den Wahlkreisen sorgen. Allerdings ist die Parteizugehörigkeit ein wichtiger Faktor, der auch über den Erfolg in den Wahlkreisen entscheidet. Nicht-parteigebundene Kandidaten und kleinere Parteien gewinnen in der Regel keine oder nur wenige Direktmandate. Auf dem Stimmzettel wird die Erststimme links abgegeben.

Zweitstimme: Landesliste

Die Zweitstimme ist die wichtigere Stimme, weil sie über die Sitzverteilung zwischen den Parteien im Bundestag entscheidet. Mit ihr stimmt der Wähler für eine bestimmte Partei und deren Landesliste. Nach dem Prinzip der Verhältniswahl werden die Stimmen bundesweit zusammengezählt und auf die Parteien umgerechnet. Die Landeslisten werden von den Parteien in den Bundesländern zusammengestellt. Während die im Bundestag vertretenen Parteien in allen Bundesländern zur Wahl antreten, reichen kleinere Parteien oft nicht überall Listen ein, sondern kandidieren nur mit Direktkandidaten. Auf dem Stimmzettel stehen die Landeslisten rechts.

Fünf-Prozent-Hürde (Sperrklausel)

Seit 1953 müssen mindestens fünf Prozent der bundesweit abgegebenen Stimmen erzielt werden, um in den Bundestag einzuziehen. 1949 reichte es, diese Hürde nur in einem Bundesland zu überspringen. Umgangen werden konnte dies, durch den Gewinn mindestens eines Direktmandats. Diese Zahl wurde 1956 auf drei solcher "Grundmandate" erhöht. Bei ihrem Gewinn ist eine Partei nicht nur mit drei Abgeordneten, sondern entsprechend ihres Zweitstimmenanteils im Bundestag vertreten. Allerdings kann sie dort keine Fraktion bilden.

Überhangmandate

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr Sitze aufgrund der Zweitstimmen zustehen. Alle siegreichen Direktkandidaten aus den Wahlkreisen ziehen dann in den Bundestag ein und die Gesamtzahl der Sitze erhöht sich. Bei den Wahlen 2005 erhielten CDU und SPD zusammen 16 Überhangmandate.

Ein möglicher Grund für Überhangmandate kann die geringe Wahlbeteiligung in einem Bundesland sein. Auch das sogenannte "Stimmen-Splitting" kann diesen Effekt haben: Wenn Wähler mit ihrer Erststimme für den aussichtsreichen Direktkandidaten einer großen Partei und mit ihrer Zweitstimme für eine kleinere Partei stimmen, führt das zu einer Differenz zwischen Erst- und Zweitstimmen einer Partei.

Berechnung der Sitzverteilung

Für die Berechnung der Bundestagsmandate werden zunächst alle Zweitstimmen zusammengezählt, die auf die Landeslisten einer Partei abgegeben wurden. Parteien, die nicht mindestens fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen errungen haben, fließen nicht in die weitere Berechnung ein. Dann wird die Gesamtzahl der Mandate einer Partei auf Bundesebene berechnet. Mit der Wahl 2009 erfolgt die Berechnung erstmals nach dem sogenannten Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren, das weder kleine noch große Parteien bevorzugt. Wenn feststeht, wie viele Bundestagssitze eine Partei bundesweit gewonnen hat, werden diese auf die einzelnen Bundesländer verteilt: Je mehr Stimmen eine Partei in einem Bundesland errungen hat, umso mehr Mandate stehen ihr zu. Hat eine Partei also in zwei Bundesländern jeweils 30 Prozent der Stimmen auf sich vereint, stehen ihr im Land mit größerer Bevölkerung oder höheren Wahlbeteiligung mehr Mandate zu.

Wahlkampfkosten-Erstattung

Ein Teil der Kosten, die die Parteien für den Wahlkampf aufbringen, wird vom Staat erstattet. Die Summe hängt vom Wahlerfolg ab: Jede zur Bundestagswahl zugelassenen Partei erhält für die ersten vier Millionen gültigen Stimmen je 0,85 Euro. Für jede weitere Stimme erhält sie 0,70 Euro. Voraussetzung ist, dass sie bei der Wahl mindestens 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erringen konnte. Damit soll verhindert werden, dass Splitterparteien sich nur in der Hoffnung auf Kostenerstattung zur Wahl stellen. Deshalb erhalten auch unabhängige Einzelbewerber erst ab einem Erststimmenanteil von zehn Prozent 2,80 Euro je Stimme.

www.bundestag.de

Die Sonderseite "Wahlen" der Bundestags-Homepage gewährt Einblicke in die Wahlvorbereitung des Bundestags und erläutert unter anderem die Frage der Überhangmandate, während die Rubrik "Wahlgeschichte" einen Rückblick auf vergangene Bundestagswahlen bietet. Zudem finden sich hier neben dem Videowettbewerb "Mach dein Kreuz", auch prominente Videobotschafter, wie die Boxerin Regina Halmich, der Schauspieler Friedrich von Thun und das Model Barbara Meier, die zur Wahl aufrufen. Einen besonderen Service bietet die Seite am Wahlsonntag selbst. Ab 19.30 Uhr etwa können die Wähler auf der Wahlkreiskarte überprüfen, ob ihr Wahlkreis schon ausgezählt ist. Sowie vom Bundeswahlleiter die Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen bekannt gegeben werden, findet der Nutzer dort die siegreichen Direktkandidaten mit Foto und Biografie vorgestellt.

www.wahl-o-mat.de

Auf dem von der Bundeszentrale für politische Bildung betriebenen Portal haben 24 Parteien 38 verschiedene Fragestellungen beantwortet, zu denen der Nutzer ebenfalls Stellung nehmen muss. Das Programm bietet zu jeder Frage die Antwortmöglichkeiten "stimme zu", "neutral", und "stimme nicht zu" an. Der Wahl-O-Mat stellt die Auswertung der Thesen in einer sehr anschaulichen und übersichtlichen Statistik dar. Damit wird deutlich, mit welcher Partei die Ansichten des Nutzers am weitgehendsten übereinstimmen. Das Programm soll jedoch kein Ersatz für eine eigene Meinungsbildung sein, sondern lediglich eine Hilfestellung. Zur Bundestagswahl 2009 wurde der Wahl-O-Mat bisher 3,2 Millionen mal genutzt.

www.bundeswahlleiter.de

Die Internetseite des Bundeswahlleiters gibt einen Überblick über die zugelassenen Parteien und führt sämtliche Wahlbewerber zur Bundestagswahl 2009 auf. Neben einem Überblick zur Wahlkreiseinteilung finden sich auch Informationen zur Briefwahl, zur Wahlmöglichkeit von Deutschen im Ausland und ein Kalender mit Terminen und Fristen für die Wahl 2009. Außerdem gibt es ein ausführliches "Wahl ABC". Dieses alphabetische Stichwortverzeichnis enthält Erläuterungen und Definitionen zu wichtigen Begriffen im Zusammenhang mit Wahlen. Zudem gibt es umfangreiche Statistiken zu allen bisherigen Bundestagswahlen.

www.wahlen.bpb.de

Mit einem umfangreichen Quiz über Zahlen und Fakten rund um die Wahlen wartet die Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung auf. Weiterhin werden in kurzen "Wahlfilmen" Überhangmandate ebenso erklärt, wie die Fünf-Prozent-Hürde und der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmen. In einem Dossier zur "Deutschen Demokratie" wird sehr detailliert das politische System der Bundesrepublik dargestellt. Mit einem interaktiven Tortendiagramm kann der Nutzer auf spielerische Weise aktuelle Wahlumfragen auswerten. v

Marlene Mathewson ist im Juli 18 Jahre alt geworden und geht in die 13. Klasse eines Gymnasiums im Berliner Stadtteil Tempelhof. Am 27. September darf sie das erste Mal in ihrem Leben bei einer Bundestagswahl wählen - ein Ereignis, auf das sie sich schon jetzt riesig freut.

Keine Frage, mir bedeutet es sehr viel, dass ich am 27. September endlich wählen kann. Es gehört doch zum Erwachsenwerden dazu, mitentscheiden zu dürfen! Zur Wahl werde ich aber mit meiner Mutter gehen, denn allein würde ich mir im Wahllokal ein bisschen hilflos vorkommen.

Merkwürdig ist nur: Bis vor einem halben Jahr habe ich mich gar nicht für Politik interessiert. Da wäre mir das alles völlig egal gewesen. Doch meine Einstellung hat sich kurz vor der Europawahl völlig geändert. Damals kamen verschiedene Vertreter der Parteien zu einer Podiumsdiskussion in unsere Schule. Einige habe ich später auf Plakaten wiederentdeckt, das hat mich total begeistert. Die Politiker haben sich sehr viel Zeit genommen und so interessant und spannend diskutiert, dass ich am liebsten schon sofort bei den Europawahlen mitgewählt hätte. Aber da war ich noch nicht 18.

Seitdem begeistere ich mich aber für Politik. Ich gucke mir die Wahlplakate in der Stadt jetzt genau an und möchte wissen, welche Partei was macht. Ich lese auch die Zeitung viel genauer und verfolge die Nachrichten. Neulich habe ich den Wahl-O-Mat gemacht - das Ergebnis hat mich nicht überrascht. Im Nachhinein war es richtig blöd von mir, dass ich bisher so wenig aktiv war. Aber ich sehe es ja auch an meinen Freunden und Klassenkameraden: Ihr Interesse an Politik steigt, je älter sie werden. Insgesamt ist Politik aber kein großes Thema bei mir im Freundeskreis.

Mehr direkte Entscheide

Wenn ich die Zeit hätte, würde ich mich gerne selber in der Politik engagieren. Aber jetzt mache ich ja erst mal Abitur. Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass man viel öfter wählen darf, nicht nur alle vier Jahre. Es sollte viel mehr Wahlen und mehr Volksentscheide zu bestimmten Themen geben.

Ob ich mit meiner Stimme etwas beeinflussen kann? Das hoffe ich! Natürlich werde ich allein nichts verändern. Aber wenn ich mit anderen Leuten spreche und merke, dass sie die gleiche Meinung haben wie ich und dass sie die gleiche Partei gut finden, dann denke ich: Okay, wenn wir alle wählen gehen, kann das schon etwas verändern. Für mich jedenfalls kommt Nichtwählen nicht in Frage. Leute, die nicht wählen gehen, kann ich nicht verstehen.

Eigene Meinung

Welche Partei ich wähle, entscheide ich ganz allein. Klar wird man immer auch ein bisschen durch seine Eltern beeinflusst. Aber meine Meinung habe ich mir zum größten Teil selbst gebildet. Ich weiß ja, was mir wichtig ist: Umweltpolitik vor allem, weil ich so ein Naturmensch bin. Frauen sind außerdem immer noch benachteiligt in der Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass sie wirklich gleichbehandelt werden.

Trotzdem ist es sehr schwer, sich für eine Partei zu entscheiden. Denn im Grunde sagen doch auf den Wahlplakaten alle dasselbe - Umweltschutz zum Beispiel wollen heute alle. Die Parteien kopieren sich gegenseitig! Wenn man keine Ahnung hat, wählt man irgendwas, weil man sie überhaupt nicht unterscheiden kann. Ich finde, da müsste eine klarere Linie gezogen werden.

Komplizierte Begriffe

Mit meinen Eltern rede ich oft über Politik. Diskutieren kann man das eigentlich nicht nennen, weil wir meistens einer Meinung sind. Aber ich frage sie zum Beispiel nach bestimmten Begriffen und Zusammenhängen. In der Politik wird ja viel Fachsprache verwendet, die man als normaler Bürger nicht leicht verstehen kann. Bei einigen Themen, zum Beispiel Steuerpolitik, schalte ich völlig ab - das ist einfach zu kompliziert.

Was mich enttäuscht: Auf die Bundestagswahl werden wir in der Schule gar nicht vorbereitet. Das ist vor allem für uns Erstwähler schlecht - und das sind ja viele in meinem Jahrgang. Wie sollen wir erfahren, wie das alles funktioniert? Was eine Erststimme ist, was eine Zweitstimme? Das musste ich alles meine Eltern fragen.

Klar, ich gehe aufs Gymnasium, die Grundsätze der Demokratie wurden mir vermittelt. Aber man ist schon sehr auf sich allein gestellt. Ich fürchte, viele werden gar nicht wissen, was sie tun müssen, wenn sie erstmal im Wahllokal stehen.

Bernd Müller (64) vor dem Renteneintritt Unternehmensberater in Berlin, ist einer von 62 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland. Doch er wird am Wahltag zu Hause bleiben. Er interessiert sich zwar für Politik. Aber wählen möchte er diesmal nicht. Aus gutem Grund, wie er findet.

Ich beobachte Politik schon lange, doch in den vergangenen Jahren mit wachsender Irritation und Distanz. Ob es um Europa-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik geht - meiner Meinung nach befinden sich alle im Parlament vertretenen Parteien auf dem Holzweg. So halte ich es für ganz falsch, dass der Bundestag im Zuge des europäischen Integrationsprozesses Rechte abgeben soll. Was die Wirtschaftspolitik angeht, ist es aus meiner Sicht gefährlich, allein auf die Dienstleistungsgesellschaft zu setzen. Ohne Jobs für Arbeiter und ungelernte Arbeitskräfte steuern wir auf ein Desaster zu. Das Haushaltsdefizit wächst zudem unaufhaltsam. Im Grunde wissen alle Parteien, dass sich Sozialpolitik unter diesen Bedingungen nur noch auf der Ebene der Grundsicherung abspielen kann. Eine wirkliche Lösung haben sie dafür nicht. Wie übrigens für viele andere Probleme auch nicht, etwa die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die Parteien überschütten die Bevölkerung mit Reformen, doch mir scheint die Vision dahinter zu fehlen. Wie soll unsere Gesellschaft in 20 oder 40 Jahren aussehen? Ich möchte das von den Parteien wissen! Ohne Vision bleibt jede Reform nur eine Spontiaktion. Was mich zudem ärgert: die Trickserei. Wären die Politiker ehrlich, müssten sie zugeben, dass wesentlich mehr Menschen in Deutschland ohne Job sind, als in der Statistik verzeichnet werden.

Keine Kompromisse

Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren habe ich noch meine Stimme abgegeben. Doch inzwischen hat sich mein Bewusstsein für Politik verändert. Deshalb werde ich am nächsten Sonntag bewusst nicht wählen gehen. Warum auch? Es kommt mir sinnlos vor. Keine Partei verfügt über die notwendige Kompetenz zur Lösung unserer politischen und gesellschaftlichen Probleme - und ich will bei substanziellen Punkten keine Kompromisse machen. Als verantwortungslos empfinde ich mich deshalb keineswegs. Immer wieder wird zwar argumentiert, man habe als Bürger die Pflicht, zur Wahl zu gehen und sein Recht zur demokratischen Teilhabe zu nutzen. Was aber ist, wenn ich mich von keiner Partei ausreichend vertreten fühle? Ich fände es im Gegenteil sogar unehrlich, nur zu wählen, um einem moralischen Prinzip Folge zu leisten. Nicht wählen ist also durchaus eine verantwortungsbewusste Entscheidung: Ich verweigere die Zustimmung. Das ist eine demokratische Position.

Kopfstehende Prinzipien

So bin ich zwar Nichtwähler, sehe mich aber noch immer als Demokrat. Ich bin ja nicht von der Demokratie, sondern von der "real existierenden" Demokratie enttäuscht. Unsere Demokratie und unser Rechtsstaat haben in den vergangenen Jahren Schaden genommen. Ich denke an die Onlinedurchsuchung, die elektronische Patientenkarte, die Wohnraumüberwachung - wir sind auf dem Weg zum Überwachungsstaat. So hat das Grundgesetz unsere Demokratie eigentlich nicht vorgesehen. Da ist zum Beispiel auch vom freien Mandat der Volksvertreter die Rede, das aber in der Realität oft dem Fraktionszwang der Parteien untergeordnet wird. Und noch eine Bemerkung zu den Parteien: Ist es demokratisch, wenn eine Partei, die bei einer Bundestagswahl 35 Prozent der Stimmen bekommen hat (und dies vielleicht bei einer Wahlbeteiligung von nur 77 Prozent), von diesem Ergebnis ihren Führungsanspruch ableitet? 65 Prozent der Bevölkerung haben die Partei ja gar nicht gewählt! Ich finde, das stellt das demokratische Prinzip auf den Kopf.

Neue Politikethik

Die Politiker klagen viel über die Demokratiemüdigkeit der Bürger. Meiner Ansicht nach tragen aber die Parteien selbst dafür die Verantwortung. Immer diese Querelen, immer dieses Ringen um Machterhalt - Sachthemen fallen so der Parteipolitik zum Opfer. Was ich mir wünsche? Eine neue Politikethik. Politiker sollten wie Unternehmer ihre Ziele, kurzfristige ebenso wie langfristige, klar benennen - und sich daran halten. Die Ziele müssten sogar einklagbar sein. Überhaupt wäre ich dafür, dass die Bürger ihre Volksvertreter abwählen dürfen, wenn diese sich anders verhalten, als sie es im Wahlkampf angekündigt haben. Wäre das so, würde ich sicher am Sonntag wählen gehen.

Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim": Nach diesen Grundsätzen wird der Bundestag in der Bundesrepublik gewählt, am 27. September bereits zum 17. Mal. Die Prinzipien klingen selbstverständlich und gelten bei den meisten demokratischen Wahlen weltweit. Allerdings mit Ausnahmen: Der Präsident der Vereinigten Staaten wird beispielsweise nicht unmittelbar, sondern von einem Wahlmänner-Kollegium gewählt. Die Wähler entscheiden mit ihren Stimmen über deren Zusammensetzung.

Das deutsche Wahlsystem unterscheidet sich aber nicht nur vom amerikanischen, sondern auch von vielen europäischen Wahlsystemen. Die wichtigste Differenz: In der Bundesrepublik wird nach dem Verhältniswahlrecht gewählt, während andere Länder die reine Mehrheitswahl vorziehen.

Wahlkreise und Direktkandidaten

Groß-britannien gilt als ältestes und Musterbeispiel für die Mehrheitswahl. Das Land ist in 646 Wahlkreise eingeteilt, in denen jeweils mehrere Kandidaten für den Einzug in das britische Parlament kämpfen. Wer die meisten Stimmen erhält, gewinnt den Wahlkreis. Wer einen anderen Kandidaten gewählt hat, dessen Stimme wird nicht berücksichtigt. Als Vorteil der Mehrheitswahl gilt, dass sie meistens für klare Mehrheiten sorgt - allerdings begünstigt sie große Parteien. In der Bundesrepublik Deutschland wurde nach 1948 das Verhältniswahlrecht eingeführt, das auch schon in der Weimarer Republik gegolten hatte. In Deutschland gibt es 299 Wahlkreise, in denen Kandidaten direkt um den Einzug in den Bundestag kämpfen. Sie werden mit der Erststimme gewählt. Wichtiger ist jedoch die Zweitstimme. Sie entscheidet, welchen Anteil der Parlamentssitze die Parteien erhalten. Deshalb sind im Deutschen Bundestag auch Parteien vertreten, die nur in wenigen oder keinem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Weil das Wahlsystem in Deutschland die Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl in den einzelnen Wahlkreisen verbindet, bezeichnet man es als "personalisierte Verhältniswahl".

Als Vorteil der Verhältniswahl gilt, dass mehr Wählergruppen im Parlament repräsentiert werden. Auch neue Parteien können sich in diesem Wahlsystem leichter durchsetzen als bei der Mehrheitswahl. Als Nachteil gilt, dass sie nicht immer zu klaren Mehrheiten führt und somit die Bildung einer Regierung erschweren kann. Daraus folgt - ein weiterer Kritikpunkt -, dass der Bürger eine Partei wählt, aber vor der Wahl nicht sicher sein kann, welche Koalition diese Partei nach der Wahl eingehen wird, um eine Mehrheit erlangen.

Obwohl die Einführung der Mehrheitswahl wegen ihrer möglichen Vorteile in Deutschland immer wieder diskutiert wird, stand die Einführung nie bevor. Die Verhältniswahl ist eine Konstante des deutschen Wahlsystems, genauso wie die Fünf-Prozent-Hürde (siehe Glossar).

Andere Bestandteile des Wahlsystems verändern sich immer wieder. So die Wahlkreise: Nach der Gründung der Bundesrepublik gab es zunächst 242, ihre Zahl stieg nach 1961 auf 248 und nach der Einheit sogar auf 328. Vor sieben Jahren wurde ihre Zahl auf 299 reduziert. Ein Wahlkreise darf nicht mehr als ein Viertel größer oder kleiner sein als der Durchschnitt. Deshalb "wandern" auch Wahlkreise, indem sie die Zu- und Abwanderung der Wähler in verschiedenen Regionen nachvollziehen. Niedersachsen und Baden-Württemberg werden bei der kommenden Abstimmung einen Wahlkreis mehr haben, Sachsen und Sachsen-Anhalt einen weniger.

Auch bei der Umrechnungsmethode von Zweitstimmen in Mandate gibt es dieses Jahr eine Neuerung: Erstmals wird bei Bundestagswahlen das sogenannte Sainte-Laguë/Schepers-Verfahren angewandt. Benannt ist es nach dem französischen Mathematikprofessor Jean-André Sainte-Laguë und dem Physiker Hans Schepers. Es löst das Hare/Niemeyer-Verfahren ab, das der Engländer Thomas Hare im 19. Jahrhundert erfand. Der deutsche Mathematiker Horst Niemeyer brachte es Jahrzehnte später wieder in Erinnerung. Das Verfahren hat jedoch den Nachteil, dass es kleinere Parteien in bestimmten Fällen benachteiligt. Schepers entwickelte deshalb als Leiter der Gruppe "Datenverarbeitung" im Bundestag eine Methode, die unabhängig von ihm bereits der Franzose Sainte-Laguë 1912 vorgeschlagen hatte. Sie steht für eine gerechtere Verteilung der Mandate.

Urteil aus Karlsruhe

Bei der Besetzung der Ausschüsse im Bundestag wird bespielsweise die Sainte-Laguë-Schepers-Methode schon seit 1976 angewandt. Der Grund: Wenn nur wenige Sitze zu vergeben sind, ist mit diesem Verfahren eine gerechtere Sichtzverteilung möglich.

Während die Wahl der Berechnungsmethode vor allem Mathematiker beschäftigt, diskutierten nach der Bundestagswahl 2005 viele über das Phänomen des "negativen Stimmgewichts".

Als Folge des deutschen Wahlrechts können nämlich Konstellationen eintreten, in denen mehr Stimmen zu weniger Mandaten für eine Partei führen. Besonders deutlich wurde dieser Effekt bei Nachwahlen in Dresden im Oktober 2005: Hätten viele Wähler der CDU in diesem Wahlkreis die Zweitstimme gegeben, hätte die sächsische CDU einen zusätzlichen Platz gewonnen. Der aber wäre in einem anderen Bundesland abgezogen worden. Bei weniger Zweit- und vielen Erststimmen konnte die Partei jedoch ein zusätzliches Überhangmandat für Sachsen gewinnen. Mehr Mandate für weniger Stimmen? Im Juli 2008 urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts "die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl" verletzt. Der Wähler könne nicht immer erkennen, ob seine Stimme der von ihm unterstützten Partei nutze oder schade. Wegen der Komplexität des Themas hat der Bundestag allerdings bis zum 30. Juni 2011 Zeit, eine neue Regelung zu finden. Am 27. September wird deshalb noch nach bestehendem Recht gewählt.