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Maos vergessene Kinder

CHINESISCHE LITERATUR Yiyun Li zeichnet ein düsteres Bild Chinas am Ende der 1970er Jahre

12.10.2009
2023-08-30T11:24:09.7200Z
4 Min

Am 21. März 1979 begann der Tag für Lehrer Gu vor Sonnenaufgang. Er erwachte und sah, dass seine Frau still in ihre Decke weinte." Mit diesem Satz lässt die in Peking geborene, in die USA emigrierte und dort wiederholt ausgezeichnete Autorin Yiyun Li ihren Roman "Die Sterblichen" beginnen.

Lehrer Gu und seine Frau sind die einzigen in der kleinen Stadt Hun Jiang, tausend Kilometer von Peking entfernt, die Grund zur Trauer haben. Für alle anderen Einwohner sollte es nach den Vorstellungen des Bürgermeisters und der herrschenden Kader ein großer Freuden- und Festtag zu Ehren von Volk und Partei werden in diesem von den großen Ereignissen "da draußen "kaum berührten Provinzflecken.

Das Stadion der Stadt sollte an diesem Tag schneller als sonst voll werden. Die Besucher versprechen sich von der angekündigten Denunziationzeremonie gegen eine frühere Rotgardistin und "Konterrevolutionärin" gute Unterhaltung und die Aufhellung ihres sonst so grauen Alltags. Zum Höhepunkt des Tages soll dann die Hinrichtung der Delinquentin werden. Dieser Tag wird in der Tat zu einem besonderen: Aber anders als gedacht, wird er für viele auch zu einem Tag der Heimsuchung, der ihre Schicksale durcheinander wirbelt - doch für niemanden zum Guten.

Die junge Frau, die vor ihren Parteirichtern steht, ist die Tochter des Ehepaars Gu. Sie quälen sich immer wieder mit der Frage, warum sie bei der Erziehung ihrer Tochter versagt haben. Gu Shan hatte gewagt, sich der herrschenden Lehre zu entziehen und die durch Korruption und Unmoral entgleiste Funktionärsherrschaft zu kritisieren. Im Gefängnis ist sie auf grauenhafte Weise gefoltert worden; ihre Stimmbänder wurden vor dem Verfahren durchgeschnitten, um ihr die Möglichkeit zu nehmen, ihre Richter vor der Öffentlichkeit anzuklagen.

Ferne Ereignisse

Es ist die Zeit des Umbruchs, zwei Jahre nach dem Tod Maos. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs Chinas zur Weltmacht, gar zum "global player" der Wirtschaft, rücken Ereignisse von "damals" mehr und mehr in die Ferne. Die Kulturrevolution, erst recht die durch das Versagen Maos und der KPCH in den 50er Jahren ausgelöste größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte mit bis zu 40 Millionen Toten sind schon fast vergessene Ereignisse.

Auch in Hun Jiang, wo sich alle mehr schlecht als recht und meistens hungernd durchs Leben schlagen: Ein altes Ehepaar, das den Müll durchsucht und vielen hilft, der nichtsnutzige Sohn eines Volkshelden, der andere denunziert und dadurch Schicksal spielt, ein kleiner Junge, der seinen Hund sucht, der vergiftet wurde und den Hungrige bereits nichtsahnend verspeist haben. Und nicht zuletzt das Ehepaar Gu, das sogar die Kugel für die Hinrichtung ihrer Tochter bezahlen muss - in Hun Jiang also ist die vage Meldung angekommen, in Peking sei eine "Mauer der Demokratie" errichtet worden. Vor ihr soll ein jeder seine Klage gegen die Regierung ungestraft vortragen können.

Die Sache ist - wie immer - streitig und die örtlichen Funktionäre, die über in die Kreisstadt entsandte Emissäre Erkundigungen einziehen, sind unsicher, welcher Windrichtung sie vertrauen sollen.

Alte Feindschaften sind dabei nicht vergessen worden. Ausgerechnet das örtliche "Lieblingskind" der Partei, die Rundfunksprecherin Kai, schlägt sich auf die Seite einer Dissidentengruppe. Diese hat in einer Flugblattaktion die Verurteilung und Hinrichtung im Stadion kritisiert und zu einer Unterschriftenaktion gegen das "korrupte System" aufgerufen. Viele glauben, mit ihrer Unterschrift Gutes zu tun, setzen aber vor allem darauf, dass auch für sie selbst etwas dabei rausspringt.

Brutale Hierarchie

Die Mauer in Peking fällt, aber auf die falsche Seite. Funktionäre retten ihre Haut und ihre geliebten Privilegien. Sie senden ihre Schergen aus und lösen durch erzwungene Denunziationen eine Verhaftungswelle aus, die Schuldige und Unschuldige ins Gefängnis bringt. Gnadenlos funktioniert das streng hierarchisch geordnete System: Wer gerade oben sitzt, hat immer Recht. Im Namen von Partei und Volk und vor allem zum Wohl des gerade herrschenden Kaders.

Die Rundfunksprecherin wird zum Tode verurteilt, aber die Herrschenden sind doppelt enttäuscht: Sie hat sich nicht nur dem Ansinnen der Partei, im Tausch gegen Privilegien zum geistigen Krüppel zu werden, verweigert, sondern auch ihren Mann, einen Funktionär mit Zukunft, verlassen.

Was hier etwas melodramatisch klingen mag, so ist es doch nicht überzogen. Die Autorin Yiyun Li hat ein herausragend gutes Gespür für die Verwirrungen und Versuchungen, die auf dieser Welt nicht nur Chinesen ereilen können. Sie bietet den Einblick in einen Mikrokosmos, in dem sich die physische und psychische Deformierung eines ganzen Volkes spiegelt - was immer dieses große und alte Kulturvolk, das der Welt so viel gegeben hat, auch heute erreicht haben mag.

Die Roman "Die Sterblichen" ist ein hartes, ein düsteres, ein herzzerreißendes, zugleich ein wichtiges politisches Buch. Im Rollentausch werden darin auch die Guten zu tragischen Helden, indem sie von Opfern zu Tätern und wieder zu Opfern werden. Beim Streit der Protagonisten darüber, ob ein missverstandener Marxismus als geistiges Opium in diesen Abgrund geführt hat, lernt der Leser vor allen Dingen nur eins: Eine gute Diktatur, auch eine die im Namen des Volkes regiert, gibt es nicht.

Yiyun Li:

Die Sterblichen. Roman.

Hanser Verlag, München 2009; 384 S., 21,50 €