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Ein Ländle für Deutschland

MITTELSTAND Aus den Regionen kommt die Wirtschaftskraft

28.12.2009
2023-08-30T11:24:18.7200Z
5 Min

Im Südwesten der Republik machen die Leute selbst aus Fehlern Geld. "Wenn ich von einem Unternehmen gerufen werde, dann steht die Geschäftsleitung Kopf", sagt Helena Kapp aus Kirchheim unter Teck. Sie repariert Druckfehler, Fehldrucke, verstellte Seiten in Büchern, Farbabweichungen in Bildern, entfernt Kapitel oder fügt welche hinzu. Das alles begann vor 33 Jahren - mit einer Idee.

Grandioser Fehldruck

Es war kurz vor Heiligabend, als Kapp von einem grandiosen Fehldruck hörte. "Das große Buch vom Bier", ein repräsentativer Bild-Textband, war von mehreren Großfirmen schon fest als Weihnachtsgeschenk für ihre Kunden eingeplant und deshalb in einer Auflage von 15.000 gedruckt worden. Doch auf Seite 145 prangte in Großbuchstaben: "Großbritannien und Irla" - es hätte natürlich Irland heißen müssen . Nicht mal einstampfen ging mehr. Kapp organisierte Freunde und Bekannte, Vereine, eine Krabbelgruppe, und gemeinsam bosselten sie in etlichen Tag- und Nachtschichten per Letraset das fehlende "nd" an die grüne Insel. Der Verlag hatte viel Geld gerettet und Kapp einen Job gefunden.

Heute ist sie gut beschäftigt. Mal muss sie in einem Buch per Gerichtsentscheid Zeilen schwärzen, dann sich eines arabischen Weltatlasses annehmen, dessen Anfangs-Seiten versehentlich ans Ende gestellt wurden - man liest im Orient von rechts nach links. Baden-Württemberg, das Land der Tüftler und Erfinder, und nicht immer muss es High-Tech sein.

Gottesgabe

Findigkeit und Genialität beweisen sich auch im Kleinen und Einfachen, führen zu Firmengründungen. Die so entstehenden Betriebe sind das Rückgrat des Mittelstandes, und das Klischee stimmt: In keinem Land, in keiner Region in ganz Europa ist der Mittelstand so stark vertreten wie im Südwesten Deutschlands. Mehr als 90 Prozent der Beschäftigten arbeiten hier in mittelständischen Unternehmen.

Der CDU-Landtagsabgeordnete Reinhard Löffler nimmt diesen Umstand ganz demütig als Gottesgabe: "Die dem Mittelstand zugrundeliegende Kreativität der Schwaben und Badener ist fast so was wie eine positive Erbkrankheit." Natürlich versuche die Politik zu unterstützen, sicher sei die Förderung und Beratung durch die in Stuttgart beheimatete Steinbeis-Stiftung eine segensreiche Sache, auch helfe die landeseigene Wirtschaftsförderungsgesellschaft den Unternehmen, in Übersee Fuß zu fassen; aber der Mittelstand habe hier einfach Tradition. Seit dem 19. Jahrhundert habe sich im Land mit den Jahrzehnten eine vielschichtige und auf die Fläche verteilte robuste Wirtschafts-Infrastruktur gebildet, sagt der Parlamentarier.

Planerische Ursachen

Doch Unternehmer wie Horst Weitzmann, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Südweststahl AG, sieht neben der Mentalität und Geschichte durchaus auch planerische Ursachen für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Einen gewichtigen Punkt sieht er in dem von mehreren Regierungen über viele Jahrzehnte aufgebauten und auf den Mittelstand ausgerichteten Ausbildungssystem des Südwestens. Gezielt wurden zahlreiche Fachhochschulen geschaffen. Und in jüngster Zeit sind die Berufsakademien hinzugekommen, ein internationaler Exportschlager. Schwellenländer wie Indien haben diese Idee adaptiert und beschäftigen für den Aufbau dieser Einrichtungen Spezialisten aus dem Land. "Die Qualität eines Facharbeiters ist mir wichtiger als die Examensnote eines Ingenieurs", sagt Weitzmann.

Konzentration auf Zentren

Zudem habe die Politik darauf geachtet, eine Konzentration auf wenige Wirtschaftszentren wie Stuttgart und Mannheim zu vermeiden und im Laufe der Jahre eine flächendeckende Wissens-Kompetenz über ganz Baden-Württemberg verteilt. "Ein Mittelständler aus einem Schwarzwaldtal hat eine Idee für ein neues Produkt", sagt Weitzmann, "braucht aber in Detailfragen Hilfe. Also reist er in die einschlägigen Zentren in der Welt - Bangalore, Singapur, Tokio - um herauszufinden, dass der Mann mit der Lösung seinen Betrieb im Nachbartal hat."

Diese Einschätzung teilt Oliver Mühleisen, Geschäftsführer von Reinhold Mühleisen GmbH, ein Spezialist für Maschinen und Werkzeugmechanik. Vor fünf Jahren beteiligte er sich an einer EU-Ausschreibung zu einer Vorrichtung für einen Kernfusions-Reaktor in England. Eine Energieerzeugung wie in der Sonne für die Erde nutzbar machen - um nichts weniger ging es. Nun handelt es sich bei Mühleisens Firma um einen Betrieb mit 16 Angestellten, plus vier Familienmitglieder: "Da müssen Sie Unterlagen in Paletten-Größe erstellen und bei der technischen Umsetzung, bei den Werkstoffen, brauchen Sie an einigen Stellen einfach Erfahrungswissen von Spezialisten". Diese fand er in der allernächsten Umgebung. "Dieses kompakte Wissen in der Fläche finden Sie nur hier", ist sich Mühleisen sicher, "Da gibt es auch keinen Neidgedanken". Man hilft sich. Ein dichtes Kompetenz-Netzwerk auf gerade mal zehn Prozent der Fläche der Bundesrepublik. Mühleisens Firma gewann die Ausschreibung gegen gewaltige Konkurrenz.

Ausdauernd und effektiv

Nach wie vor sei der Mittelstand der "Esel" der Wirtschaft in Baden-Württemberg, sagt Löffler. Nicht das edelste Tier, aber ausdauernd und effektiv. Doch natürlich kann auch für ihn die Luft zu dünn werden, um noch Leistung zu bringen. Und Mühleisen sagt: "Das Vorratslager ‚Mittelstand', noch ist es gut gefüllt. Aber wir leben von der Substanz." Ein großer Teil der Gefahren komme vom Bund. Das Erbschaftssteuerrecht zum Beispiel: Ein Firmenerbe muss nur dann keine Steuer bezahlen, wenn er die Anzahl der Mitarbeiter über zehn Jahre nicht verringert. Falls er das irgendwann nicht mehr schafft, wird er zur Kasse gebeten. Kleine Veränderungen sind vorgesehen, aber ob sie reichen, ist fraglich. Die Eigenkapitalvorschriften "Basel 2" würden die Zuteilung von Krediten erheblich erschweren. Zudem seien die Banker zu mächtig, aber auch im Land wünsche er sich mehr Mut von der Politik. Jetzt sollte investiert und auf keinen Fall Projekte eingefroren werden, sagt Löffler. Die Rahmenbedingungen seien für Investitionen so gut wie nie. Trotzdem werde gezögert.

Immer genug Arbeit

Vorbei ist für Helena Kapp die Zeit ihrer "Hochkonjunktur" - damals hatte sie mehr als 100 Angestellte - als Schulbuchverlage nach der Wende die Chance sahen, ihre Lagerbestände in die neuen Länder zu verkaufen, die Bücher aber aufgrund der tiefgreifenden politischen Änderungen um mehrere Kapitel aktualisiert werden mussten - ein Fall für die Tüftlerin Kapp. Aber bange ist ihr nicht: "So lange Menschen Fehler machen, habe ich Arbeit."

Der Autor ist Gründer und Mitglied der

Reportage-Agentur "Zeitenspiegel".