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Karlsruhe hebt »entscheidende Funktion« des Bundestages hervor

URTEIL Bundesverfassungsgericht zeigt Vermittlungsausschuss Grenzen auf - er hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht

25.01.2010
2023-08-30T11:25:45.7200Z
3 Min

Norbert Lammert (CDU) dürfte diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht ungern zur Kenntnis genommen haben. Schließlich ist er Präsident des Bundestages, dessen vorrangige Stellung im Gesetzgebungsverfahren die Karlsruher Richter mit ihrem am 20. Januar veröffentlichten Beschluss explizit hervorgehoben haben - für Lammert eine "klare Prioritätenbildung in den Funktionen von Bundestag und Bundesrat, die manchen sicher überrascht haben mag".

In der Sprache des Verfassungsgerichts liest sich diese Prioritätensetzung so: "Die Kompetenzverteilung im Verhältnis zwischen den Gesetzgebungsorganen weist dem Deutschen Bundestag die entscheidende Funktion im Gesetzgebungsverfahren zu: Die Bundesgesetze werden (...) vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat ist demgegenüber auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes beschränkt", heißt es in dem Beschluss des Zweiten Senats des Verfassungsgerichts vom 8. Dezember 2009 (2 BvR 758/07). Mit der Entscheidung zeigt das Gericht vor allem dem Vermittlungsausschuss seine Grenzen auf. Dieses insbesondere in Zeiten gegensätzlicher Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat oft entscheidende Gremium habe "kein eigenes Gesetzesinitiativrecht, sondern vermittelt zwischen den zuvor parlamentarisch beratenen Regelungsalternativen".

In dem Fall ging es um eine 2004 in Kraft getretene Kürzung staatlicher Zuschüsse für ermäßigte Auszubildenden-Tickets im öffentlichen Nahverkehr. Die Kürzung ging zurück auf ein unter Leitung von Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) und seinem damaligen nordrhein-westfälischen Amtskollegen Peer Steinbrück (SPD) erarbeitetes Papier zum Subventionsabbau. Dieses "Koch/Steinbrück-Papier" wurde zwar 2003 in den Bundestagsberatungen über das Haushaltsbegleitgesetz 2004 erwähnt, doch konnten sich die Abgeordneten nach Auffassung des Gerichts mit den Vorschlägen nicht im Einzelnen verantwortlich befassen.

Eigene Vorschläge

In der vom Bundestag zunächst verabschiedeten Gesetzesfassung fand das Papier noch keine Berücksichtigung. Der Bundesrat rief indes den Vermittlungsausschuss zu dem Gesetz an mit dem Ziel, die Koch/Steinbrück-Vorschläge einzubeziehen. Tatsächlich verständigte sich der Vermittlungsausschuss auf die Anfang 2004 in Kraft getretene Änderung des Personenbeförderungsgesetzes, die dann auch von Bundestag und Bundesrat angenommen wurde.

Damit hatte der Vermittlungsausschuss aber laut Verfassungsgericht eigene Vorschläge in das Gesetzgebungsverfahren eingeführt, ohne dass der Bundestag "in verfassungsgemäßer Weise beteiligt wurde", und so seine Kompetenzen überschritten. Der Verfahrensgang war den Richtern zufolge "erkennbar darauf angelegt, unter Vermeidung der Öffentlichkeit der parlamentarischen Debatte und einer hinreichenden Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages" erst im Vermittlungsausschuss zum Kompromiss zu kommen. Fazit: Die Gesetzesänderung ist "nicht in formell verfassungsgemäßer Weise zustande gekommen".

Keine Bundesratsinitiative

Dabei verweist das Gericht auch darauf, dass das Koch/Steinbrück-Papier nicht als Bundesratsinitiative in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden sei. Die Einbeziehung des Papiers in die Einigungsempfehlung des Vermittlungsausschusses lässt sich laut Karlsruher Richterspruch auch nicht damit rechtfertigen, dass der Bundesrat dies bei der Anrufung des Gremiums verlangt hatte. Die Anrufung "käme dann einer Gesetzesinitiative gleich", und dem Bundestag würde so "eine Veto-Position zugespielt, die gerade kennzeichnendes Merkmal der Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren ist".

Vorläufig anwendbar

Für Lammert ist damit die bisweilen zu hörende Annahme, Bundestag und Bundesrat hätten im Gesetzgebungsverfahren quasi parallele Zuständigkeiten, korrigiert. Der Bundesrat könne "gegebenenfalls ein Veto gegen Gesetzesbeschlüsse des Bundestages, dem zentralen Gesetzgebungsorgan, einlegen", sagte er dieser Zeitung. "Nicht spekulieren" wollte er, ob nun möglicherweise weitere Gesetze wegen etwaiger Kompetenzüberschreitung des Vermittlungsausschusses auf den Karlsruher Prüfstand kommen.

Die beschlossene Kürzung der Zuschüsse, gegen die ein Nahverkehrsunternehmen aus Sachsen-Anhalt geklagt hatte, ist übrigens laut Verfassungsgericht inhaltlich verfassungsgemäß; die Norm bleibe "vorläufig anwendbar". Eine Neuregelung muss bis Mitte 2011 erfolgen.