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Griff in die Trickkiste

USA Die Demokraten wollen die Gesundheitsreform mit einem parlamentarischen Manöver retten

15.03.2010
2023-08-30T11:25:50.7200Z
4 Min

Harry Reid weiß nur zu gut, was drohen könnte, wenn er die Abstimmung über die Gesundheitsreform im Senat erzwingen wollte. Der Fraktionsführer der Demokraten im US-Senat hatte im Jahr 2003 selbst ein "Filibuster" angeführt, das parlamentarische Ritual, mit dem die Minderheit die Debatte über ein Gesetz endlos ausdehnen kann. Als Minderheitsführer blockierte er Richterernennungen des früheren Präsidenten George W. Bush per Dauerrede. Reid sprach neun Stunden lang. Dabei las er unter anderem aus seinem Buch "Searchlight" vor und erörterte die Vorteile von Streichhölzern.

Eine Dreifünftel-Mehrheit ist nötig, um diese parlamentarische Verzögerungstaktik gegen Gesetzesvorlagen im 100-köpfigen US-Senat zu beenden. An Heiligabend 2009 hatten US-Präsident Barack Obama und seine Demokraten diese Mehrheit: Mit 60 zu 39 Stimmen stimmte der Senat dafür, dass jeder Amerikaner künftig das Recht auf eine und die Pflicht zu einer Krankenversicherung haben sollte. Das Repräsentantenhaus hatte seinen Entwurf schon im November gebilligt. Nun ging es darum, beide Vorlagen zu vereinen und sie einer neuerlichen Abstimmung in beiden Kammern zu unterziehen. Doch am 19. Januar gewann der Republikaner Scott Brown überraschend die Nachwahl zum Senat in Massachusetts, die ausgerechnet durch den Tod des Demokraten Ted Kennedy nötig geworden war. Und die Demokraten verloren ihre 60. Stimme.

Harry Reid legt es diesmal nicht darauf an, dass Republikaner Telefonbücher vorlesen. Heutzutage reicht es normalerweise aus, wenn die Opposition mit der Absicht der Blockade droht, um den Mehrheitsführer dazu zu bringen, die Sache zu vertagen, bis er die 60 Stimmen beisammen hat. Letzteres aber darf im Fall der Gesundheitsreform, bei der die Grenzen scharf entlang der Parteilinien verlaufen, für ausgeschlossen gelten.

So kurz vor dem Erreichen seines größten innenpolitischen Ziels möchte Präsident Barack Obama indes nicht aufgeben. Und so wird im Kongress zur Zeit die ganze Palette parlamentarischer Raffinessen diskutiert. "Reconciliation" ("Versöhnung") heißt die letzte Hoffnung der Demokraten. Bei diesem Prozess können Haushaltsgesetze im Senat mit der absoluten Mehrheit von 51 Stimmen geändert werden. Zweck des 1974 eingeführten Schnellverfahrens ist es, wichtige Haushaltsfragen nicht zum Objekt von Blockaden durch die Minderheitsfraktion im Senat werden zu lassen - ein Filibuster also zu verhindern.

Die Republikaner bezeichnen diese Pläne empört als "nukleare Option" - wenngleich einst auch Obamas Vorgänger Bush seine umstrittenen Steuersenkungen mit diesem Mittel gegen den Widerstand der Demokraten durch den Kongress gebracht hatte. Doch jetzt verweisen die Republikaner auf eine Zusatzregel aus dem Jahr 1985. Danach darf das Reconciliation-Verfahren nur angewendet werden, wenn die betroffene Gesetzgebung das Staatsdefizit verringert. An dieser Hürde war schon Präsident Bill Clinton 1993 gescheitert. Auch er hatte versucht, seine Gesundheitsreform mit dem Mittel der Reconciliation zu erzwingen.

Dieser Fall sei anders gelagert, beharren die Demokraten. Schließlich hätten beide Kammern die Reform im Kern schon einmal gebilligt. Die Rolle der Reconciliation wäre also "sehr begrenzt", betonte der demokratische Vorsitzende des Senats-Haushaltsausschusses, Kent Conrad: "Sie würde sich auf Randaspekte beziehen, mit denen das Senatsgesetz verbessert werden soll." Darunter würde etwa die Rücknahme finanzieller Zugeständnisse für Nebraska und Louisiana fallen, mit denen die Demokraten die Stimmen zweier Senatoren aus diesen Staaten "gekauft" hatten.

Womöglich geht es für Obamas Reform nun schon diese Woche in die letzte, entscheidende Runde: Der Haushaltsausschuss des Repräsentantenhauses hat angekündigt, in dem kommenden Tagen über ein Kompromisspapier abstimmen zu wollen. Wenige Tage später könnte die Schlussabstimmung im Kongress stattfinden. Obama verschob dafür eigens eine Reise nach Indonesien und Australien. Doch es gibt einen Wermutstropfen: Die Demokraten verzichten in dem Papier auf ein zentrales Element der Reform - die Möglichkeit einer staatlichen Krankenversicherung, wie die Präsidentin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, am 12. März erklärte. Obama wollte eigentlich sicherstellen, dass so gut wie alle Menschen in den USA abgesichert werden können. Die Republikaner hingegen hatten es immer vehement abgelehnt, dass der Staat neben der Privatwirtschaft als Versicherer auftritt.

Schmerzliche Kompromisse, und doch: Ein Sieg der Demokraten ist immer noch nicht gewiss. Die Zustimmung des Repräsentantenhauses - am 7. November hatte das Gesetz die Kammer noch mit 220 zu 215 Stimmen passiert - gilt als unsicher. Die demokratischen Parteikollegen müssten zudem mit ihrer Abstimmung in Vorleistung gehen und darauf vertrauen, dass der Senat mit den im Gegenzug versprochenen Änderungen nachzieht. Das ist heikel genug, aber es wird noch schlimmer kommen: Der Haushaltsausschuss hat festgestellt, dass der Präsident das eigentliche Gesetz erst unterzeichnen muss, bevor sich der Senat der Reconciliation widmen kann. Das Unwohlsein, das viele Demokraten bei diesem Gedanken befällt, heizt die Opposition gerne an.

Für die Demokraten ist das ganze Projekt vor den Kongresswahlen im November ohnehin eine immer schwerere Bürde. Wie können sie ihr Ja-Votum für ein Gesetzesvorhaben aufrecht erhalten, das mehr als 50 Prozent der Amerikaner in Umfragen ablehnen? Mit hochgekrempelten Ärmeln versuchte Obama deshalb zuletzt bei Auftritten in Pennsylvania und Missouri Volkes Zorn auf raffgierige Versicherungsunternehmen umzulenken. Er schwärmte davon, wie seine Reform die finanzielle Verschwendung in der staatlichen Krankenversicherung für ältere Bürger, Medicare, eindämmen würde. Obama weiß: Am Ende werden es die Bürger sein, in deren Namen die Parlamentarier ihre Stimmen abgeben.