Piwik Webtracking Image

Betrübliches Warten auf eigenen Sitz

EUROPAPARLAMENT 18 Abgeordnete sollen nach dem Lissabon-Vertrag in die Volksvertretung nachrücken. Wie sie ausgewählt werden sollen, ist aber umstritten

15.03.2010
2023-08-30T11:25:50.7200Z
5 Min

Die Schwedin Amelia Andersdotter ist 22 Jahre jung und hat bis Dezember 2009 in Lund von Mathematik bis Spanischer Literatur so allerlei studiert. Josef Weidenholzer ist ein 59-jähriger Professor für Sozialpolitik in Linz und der 42-jährige Joseph Cuschieri arbeitet auf seiner Heimatinsel Malta in der Verwaltung der Arbeiterpartei. Die drei kennen sich nicht, aber sie haben eine Menge gemeinsam. Seit den Europawahlen im Juni 2009 warten sie darauf, ihren Sitz im Europaparlament in Brüssel und Straßburg einnehmen zu können.

Auf den ersten Blick hängt ihr Umzug an einem juristischen Detail, das sich mit einem Federstrich aus der Welt schaffen lassen sollte. Mit dem Übergang vom Nizza-Vertrag zum Lissabon-Vertrag verändert sich die Zahl der Sitze, die jedes Land im Europaparlament einnehmen darf. Schweden, Frankreich und Österreich erhalten zwei zusätzliche Abgeordnete. Spanien darf vier Parlamentarier mehr schicken, Bulgarien, die Niederlande, Polen, Italien, Slowenien, Lettland, Malta und Großbritannien je einen. Die Zahl deutscher Sitze hingegen schrumpft von 99 auf 96. Rat und Parlament sind sich aber einig, dass während der laufenden Legislaturperiode demokratisch gewählte Abgeordnete nicht zurückgeschickt werden können. Deshalb gibt es bis zum Sommer 2014 im Europaparlament drei "Überhangmandate". Statt der im LissabonVertrag festgelegten Obergrenze von 751 Sitzen darf es 754 Sitze haben.

18 Nachrücker

Doch in Wahrheit wird derzeit die zulässige Zahl nicht über-, sondern unterschritten. 736 Abgeordnete haben nach der Europawahl im Juni 2009 ihre Arbeit aufgenommen - entsprechend der Sitzverteilung im Nizza-Vertrag. Am 1. Dezember trat der Lissabon-Vertrag in Kraft, und die 18 Nachrücker hätten eigentlich ihre Koffer auspacken können. Doch bis heute ist nur eine von ihnen in Brüssel eingetroffen. Amelia Andersdotter hat sich im Januar einfach auf eigene Faust auf den Weg gemacht und ihr Studium Generale in den Fluren und Konferenzräumen der Straßburger und Brüsseler Parlamente fortgesetzt. Die Grünen-Fraktion hat der jungen Abgeordneten von der schwedischen Piratenpartei einen Schreibtisch zur Verfügung gestellt. Sie übernachtet, wo es sich gerade ergibt.

"Kennen Sie Couchsurfen?" fragt Andersdotter und guckt kritisch unter ihrem schwarzen Fransenpony hervor. "Dabei lernt man echt nette Leute kennen." Im Schneidersitz und ohne Schuhe hockt sie auf einem schwarzen Ledersessel vor dem Brüsseler Plenarsaal. "Eine Dusche und ein Dach über dem Kopf - mehr brauche ich nicht", sagt sie. Sie versuche im Einklang mit der Natur zu leben, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Deshalb werde sie in der fünfjährigen Legislaturperiode auch nicht allzu oft nach Schweden fahren. Für den schwierigen Schwebezustand, in dem sie und ihre 17 Parlamentskollegen sich befinden, hat sie die Schuldigen schon ausgemacht: die EU-Bürokratie.

Ihr Landsmann, der 30-jährige Mattias Bjärnemalm, seriös in Anzug und Krawatte, guckt freundlich amüsiert auf seine junge Chefin. Er ist Gründungsmitglied der schwedischen Piratenpartei und hat deren Jugendorganisation aufgebaut. So lernte er 2007 Andersdotter kennen. "Viele meiner Parteifreunde glauben, dass die EU von Natur aus böse ist. Sie verstehen nicht, dass es hier um komplizierte juristische Prozeduren geht", erklärt er geduldig.

Drei Verfahren

Zu diesen schwierigen Fragen zählt auch, wie die Nachrücker für das Europaparlament bestimmt werden sollen. Im Lissabon-Vertrag gibt es ein Protokoll, das die Verfahrensweise regelt, nach der die zusätzlichen Abgeordneten ins Parlament einziehen sollen. Es bezieht sich aber auf die Wahlperiode 2004 bis 2009. Niemand hatte bei Vertragsabschluss damit gerechnet, dass sich durch zwei Referenden in Irland und die tschechische Blockade das Verfahren bis nach der nächsten Europawahl hinziehen würde. Nun muss der Lissabon-Vertrag in diesem Punkt nachgebessert werden.

Sonderfall Frankreich

Über das Verfahren hatte sich der Rat bereits im Dezember 2008 geeinigt. Die betroffenen EU-Länder sollen demnach entweder Nachrücker von den Listen der Europawahl schicken, Nachwahlen veranstalten oder Abgeordnete aus ihren nationalen Parlamenten entsenden. Von der dritten Möglichkeit will nur Frankreich Gebrauch machen.

Andere Länder, darunter Deutschland und die Mehrheit der Europaabgeordneten, halten den französischen Weg für undemokratisch. "Das werden wir nicht hinnehmen", sagt der Sozialdemokrat Matthias Groote. "Es wäre demokratisch ein Rückschritt in die Steinzeit vor 1979, als das Europaparlament nicht direkt gewählt wurde." Schließlich seien ständig irgendwo in Frankreich Wahlen, bei einer solchen Gelegenheit könne man die Nachrücker fürs Europaparlament mitwählen lassen. Der konstitutionelle Ausschuss des EP aber scheint inzwischen kompromissbereit. In einem Resolutionsentwurf wird die französische Methode zwar bedauert, aber nicht kategorisch ausgeschlossen.

"Die 15 Mitgliedstaaten, die keine zusätzlichen Sitze bekommen, haben es natürlich nicht eilig mit einer Lösung", sagt Nachrücker Joseph Cuschieri: "Auch meine Parlamentskollegen sehen offenbar keinen Grund, die Sache zu beschleunigen." Dem Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz habe er eine E-Mail geschickt, aber nie eine Antwort erhalten.

Die Aufregung um die französischen Nachrücker kann er nicht nachvollziehen: "Ich weiß wirklich nicht, was undemokratischer ist - wenn Frankreich nationale Abgeordnete entsendet oder wenn demokratisch gewählte Abgeordnete ihre Arbeit nicht tun dürfen."

Auf dem Abstellgleis

Der 42-jährige Politiker ist hörbar enttäuscht - und wütend. "Sieben Mal habe ich Wahlkampf geführt, sechs Mal die Wahl gewonnen. Mit 26 Jahren war ich schon Vizebürgermeister meiner Heimatstadt - und jetzt sitze ich auf dem Abstellgleis ...", klagt er. Bei den Europawahlen 2009 erreichte er das sechstbeste Ergebnis - doch Malta standen unter dem alten Nizzavertrag nur fünf Sitze zu. Cuschieri sah das zunächst gelassen, wusste er doch, dass bald der neue Vertrag kommt und mit ihm ein sechster Sitz für Malta. Die maltesische Arbeiterpartei hat ihm zur Überbrückung einen Job in der Verwaltung gegeben. Aber Cuschieri will nicht anderer Leute Kampagnen organisieren oder das Budget verwalten - er will Europapolitik machen.

Auch Cuschieris österreichischer Parteifreund Josef Weidenholzer hat nicht mit einer so langen Wartezeit gerechnet: "Wenn Sie bedenken, dass gewählte Abgeordnete keine Möglichkeit haben, ihre Position einzunehmen - das steht nicht in Einklang mit meinen Vorstellungen von Demokratie!" Dabei ist der Professor im Vergleich zu manchen Leidensgenossen in der glücklichen Lage, seine Arbeit an der Linzer Universität einfach fortsetzen zu können. Er hat eine Sekretärin, ein Büro und Forschungsprojekte, die weiterlaufen. Dennoch:"Das Warten ist unangenehm und betrüblich. Die Planung beruflicher und persönlicher Abläufe gestaltet sich schwierig", klagt der sozialistische Europaabgeordnete in spe.

Am 7. April will der konstitutionelle Ausschuss des Europaparlaments sich für einen Lösungsweg entscheiden. Im Mai könnte das Europaparlament abstimmen. Der Rat will frühestens auf dem Gipfel im Juni ein neues Protokoll beschließen. Derzeit allerdings geht dort nichts voran.

Im günstigsten Fall könnten dann die 18 Neulinge nach der Sommerpause in Straßburg und Brüssel einen Beobachterstatus erhalten und zum 1. Dezember vielleicht ihre vollen Rechte als Parlamentarier wahrnehmen - genau ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und 18 Monate nach Beginn ihrer eigentlichen Legislaturperiode.