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Neue Gesetze im Stundentakt

Deutsche Einheit Ed Stuhler erzählt die Geschichte der letzten Monate der DDR

15.03.2010
2023-08-30T11:25:50.7200Z
5 Min

Mit zahlreichen Feierlichkeiten wurde im vergangenen Jahr der friedlichen Revolution in der DDR gedacht. Fast scheint es, als ob der Glanz der Umwälzung die dramatischen Ereignisse der Jahre 1989/90 völlig überdecken würde. So stellt Ed Stuhler zu Recht fest, dass die Regierung de Maizière fast vollkommen aus dem Bewusstsein der Deutschen verschwunden ist - auch wenn einzelne ihrer Mitglieder bis heute eine wichtige Rolle in der Politik spielen. Stuhler, von Hause aus Journalist, schildert in seinem Buch "Die letzten Monate der DDR", basierend auf Interviews für den Dokumentarfilm "Der Beitritt", die Ereignisse von April bis September 1990 weitgehend aus der Perspektive der damals Verantwortlichen. Er wolle keineswegs, so erklärt er einleitend, eine chronologische oder vollständige Übersicht über die Ereignisse geben. Statt dessen möchte er seinen Lesern "das Besondere dieser Tage und das Handeln und die Motivationen der Akteure näherbringen".

Die durch die ersten freien Wahlen ins Amt gesetzte Regierung hatte von vornherein vor allem die Aufgabe, den Staat DDR möglichst gut abzuwickeln, ohne dass - mangels historischer Vorbilder - der zeitliche Horizont dafür klar war. Viele der damals Verantwortlichen waren Pfarrer oder Wissenschaftler, politische Laien, deren Erfahrungen ganz überwiegend aus der Zeit am "Runden Tisch" stammten, dem außerparlamentarischen Verhandlungsgremium neben der Regierung Modrow. Sabine Bergmann-Pohl (CDU), die als Medizinerin in das Amt der Volkskammerpräsidentin berufen wurde, erinnert sich an ihre Unkenntnis in Verfahrensfragen. Konnte sie sich auf den Vize Reinhard Höppner (SPD) stützen, der zumindest in der Kirchenarbeit administrative Erfahrungen gesammelt hatte, so hatten die Minister neben ihren ostdeutschen Ratgebern auch Berater aus der Bundesrepublik. Aus der Sicht der Betroffenen war dies zwar in den meisten, aber nicht in allen Fällen eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Letztlich, daran erinnert Lothar de Maizière (CDU), habe die Bundesrepublik zwar 40 Jahre ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen besessen, "das ziemlich viel Geld gekostet hat, aber leider keins für gesamtdeutsche Antworten". Als überraschend unproblematisch schildern die Protagonisten dagegen die Zusammenarbeit mit den von der SED-Regierung übernommenen Apparaten.

Das Verhältnis der beiden deutschen Regierungen zueinander stellt sich auch im Rückblick der Akteure nicht einfach dar. Nicht neu ist, dass sich Regierungschef de Maizière häufig von seinem westdeutschen Pendant Helmut Kohl quasi an die Wand gedrückt fühlte - ohne jedoch völlig klein beigegeben zu haben. Glücklicherweise, so meint de Maizière heute, habe er die Details mit Wolfgang Schäuble verhandeln können. Dennoch: Bei Absprachen mit den beiden deutschen Regierungen handelte vor allem die UdSSR gern über die Köpfe des DDR-Kabinetts hinweg, was die Kohl-Regierung scheinbar ohne Widerspruch akzeptierte. Berücksichtigt man diese Demütigungen, so fällt das Urteil der Interviewten heute recht milde aus.

Die Leser erfahren von den Problemen, mit denen sich diese Fünf-Parteien-Regierung von Anfang an konfrontiert sah. Dazu gehörte der enorme Druck, unter dem gehandelt werden musste, sowie die sich permanent verändernden Rahmenbedingungen beispielsweise im außenpolitischen Bereich. Schon vor Amtsantritt war klar, dass man wesentlich schneller als geplant den wirtschaftlichen Anschluss an die Bundesrepublik suchen müsste, wollte man die massive Abwanderung in Richtung Westen bremsen und den wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR verhindern. "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr", drohten die Demonstrierenden nicht nur. Zwischen November 1989 und Juli 1990 übersiedelten 400.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik. So musste die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, die mit dem 1. Juli 1990 in Kraft trat, als erster Erfolg gelten, auch wenn die Probleme der DDR-Wirtschaft durch sie noch deutlicher zu Tage traten. Denn schließlich war kaum jemand bereit, "Westgeld" für die ungeliebten Ostprodukte zu bezahlen. Stuhler vertraut hier zu sehr den Aussagen der damaligen Politiker, nach denen wesentlich mehr Ost-Unternehmen konkurrenzfähig gewesen seien als letztlich gerettet wurden. Verantwortlich dafür sei die Treuhandchefin Birgit Breuel, die nach der Ermordung ihres Vorgängers Detlev Rohwedders alles daran gesetzt habe, eine ökonomische "Stunde Null" zu schaffen.

Gigantische Aufgabe

Ed Stuhler beleuchtet die einzelnen Politikfelder, auf denen dringend gehandelt werden musste: Die Umweltverschmutzung hatte gigantische Ausmaße erreicht, Bauern blieben auf ihren Waren sitzen, Städte verfielen zusehends. Neue Gesetze mussten fast im Stundentakt verabschiedet werden, wollte man der Demokratie einen rechtlichen Rückhalt geben. Häufig sahen sich die Politiker Situationen ausgesetzt, in denen sie weder die Bedürfnisse der DDR-Bevölkerung befriedigen noch den Ansprüchen der Bundesrepublik gerecht werden konnten. Eingaben, die in der DDR üblichste Form, seinem Ärger Luft zu machen, trafen zu Hunderten ein, aber auch Morddrohungen gegen einzelne Politiker. Im August 1990 beschloss die Volkskammer, dass die DDR am 3. Oktober aufhören sollte zu existieren, ohne dass die Inhalte des Einigungsvertrag schon feststanden. Wenige Tage zuvor hatten die SPD-Minister die Regierung verlassen.

Obwohl der Autor eingangs darauf hinweist, dass er keine umfassende Geschichte jener Zeit schreiben möchte, sondern eher "Geschichte in Geschichten", lässt die Lektüre zeitweise die kritische Distanz des Autors zu seinen Zeitzeugen vermissen. Deren Stolz auf das damals Geleistete ist gut verständlich, wird aber durch Stuhler nicht diskutiert. Eine Einordnung des Erzählten, die Ergänzung der Innenansicht durch eine Außenperspektive, fehlt vollständig. Selbst wenn man den mündigen Leser voraussetzt, bleibt es schwierig, über die Abwicklung des Ministeriums für Staatssicherheit in erster Linie den schon damals umstrittenen Innenminister Peter-Michael Diestel (CDU) zu Wort kommen zu lassen. Dieser qualifiziert noch heute seine Kritiker pauschal als "Frisöre, Bäcker und sehr viele Pastoren" ab.

Daneben ist besonders die unhinterfragte Übernahme der Aussagen zur DDR-Wirtschaft ärgerlich: Tatsächlich erwies sich erst im Laufe des Jahres 1990, wie wenig konkurrenzfähig diese tatsächlich war - insbesondere, nachdem die osteuropäischen Handelspartner nach der Währungsunion absprangen. Hier allein die Treuhand und nach Profit schielende Westdeutsche verantwortlich zu machen, greift zu kurz. Stuhlers Verzicht auf jegliche Einordnung der Aussagen seiner Gesprächspartner hätte zumindest knappe biografische Angaben zu diesen erfordert. So ist sein Buch nur für jene eine teilweise anregende Lektüre, die sich in der Geschichte der Einheit bereits gut auskennen.

Ed Stuhler:

Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit.

Ch. Links Verlag, Berlin 2010, 246 S., 19,90 €