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Des Volkes wahre Kammer

FEIERSTUNDE 20 Jahre nach dem 18. März 1990 erinnert der Bundestag an die ersten freien Wahlen in der DDR

22.03.2010
2023-08-30T11:25:51.7200Z
6 Min

Fast konnte man den Eindruck gewinnen, der 18. März sei den Terminplanern des Bundestages in diesem Jahr etwas ungelegen gekommen, fiel doch der 20. Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR mitten in die einwöchige Schlussberatung des Haushaltes 2010. Am Vormittag stritten Koalition und Opposition zunächst über Einzelplan 10, den Etat des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, dann Unterbrechung der Plenarsitzung für eine Feierstunde mit dem letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière als Hauptredner, und um 13.30 Uhr ging es bereits weiter mit der Debatte über den Haushalt von de Maizières Cousin Thomas, dem Bundesinnenminister.

Tatsächlich passte ein solcher Terminplan aber sehr gut zur 10. DDR-Volkskammer, gewählt am 18. März 1990, die wie der Bundestag ein Arbeitsparlament war und binnen weniger Monate ein gewaltiges Pensum an Gesetzesarbeit leistete: "Während die Volkskammer in den 80er Jahren im Schnitt nicht einmal zu drei Sitzungen im Jahr zusammentrat, wurden zwischen April und September 1990 in 38 Tagungen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und verabschiedet", rief denn auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in der Feierstunde dem Auditorium ins Gedächtnis. Dabei standen die Parlamentarier "vor der Doppelaufgabe, ein arbeits- und funktionsfähiges Parlament zu schaffen und zugleich unter enormem Zeitdruck gesetzgebende Entscheidungen von bislang ungekannter Tragweite zu treffen", fügte er hinzu und ergänzte, hinter der "durchaus untypischen Arbeitsplatzbeschreibung der Abgeordneten, sich möglichst schnell ,überflüssig' zu machen", habe nicht weniger gestanden als "die Aufgabe, eine jahrhundertealte deutsche Hoffnung und ein vier Jahrzehnte währendes Versprechen einzulösen: die Verbindung von Einigkeit und Recht und Freiheit".

Authentisch und ehrlich

Von einer "Mammutaufgabe" sprach auch Lothar de Maizière, durch deren Bewältigung "die Volkskammer in dem halben Jahr ihres Bestehens zu einem der fleißigsten Parlamente in der deutschen Parlamentsgeschichte" geworden sei. Verabschiedet wurden damals auch drei große Staatsverträge: die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, mit der die D-Mark Mitte 1990 alleiniges Zahlungsmittel auch in der DDR wurde. Außerdem der Einigungsvertrag mit der Bundesrepublik und der Zwei-plus-Vier-Vertrag mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, der dem geeinten Deutschland seine volle Souveränität gab: "Also alles, was man heute so gern historisch nennt, hatten wir in jenen Wochen fast täglich zur Aufgabe", blickte der letzte Regierungschef der DDR zurück. Auch seien die Gewaltenteilung und der Rechtsstaat wieder instandgesetzt, der Föderalismus wiederhergestellt und die kommunale Selbstverwaltung wieder eingeführt worden.

Wer dabei die 10. Volkskammer herablassend als "Laienspieltruppe" verspottet habe, sei ihr nur insofern gerecht geworden, "als im Laienspiel eine wirkliche und kreative Kunst und Fähigkeit zur Improvisation zu beobachten ist", betonte de Maizière. So habe er etwa vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten noch Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl gefragt, worauf sie ihn denn vereidigen wolle - "doch wohl nicht auf die alte sozialistische Verfassung?" Kurzerhand sei daraufhin die Tagesordnung geändert und ein Eid beschlossen worden, den er bedenkenlos habe sprechen können: "Derartige Situationen gab es viele", berichtete de Maizière: "Manches wirkte dadurch bestimmt nicht professionell; aber es war authentisch und es war ehrlich".

Später Triumph

Dabei habe das Volk seinem Parlament vertraut und größte Erwartungen in dessen Handeln gesetzt: "So wurde diese Volkskammer auch noch ein später Triumph über die Demagogie der DDR, in der alles nach dem Volk benannt war, aber nichts mehr mit der Wirklichkeit des Volkes zu tun hatte", unterstrich der einstige Vorsitzende der Ost-CDU. "Diese Volkskammer war die Kammer des Volkes", und nur sie habe durch ihren Beitrittsbeschluss "das ganze Deutschland herstellen" können. Dabei habe ihr Wirken auch die bisherige Bundesrepublik tiefgreifend verändert - Veränderungen, die in seinen Augen bis heute unvermindert andauern.

Neben Bundestagsabgeordneten und Vertretern der Verfassungsorgane - darunter der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle - waren rund 200 frühere Mitglieder der 10. Volkskammer zu der Feierstunde gekommen; unter ihnen auch Bergmann-Pohl, ihr damaliger Stellvertreter Reinhard Höppner (SPD) und die spätere Grünen-Chefin und heutige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler. Von den - mit Nachrückern - insgesamt 409 frei gewählten Volkskammerabgeordneten gehören heute 9 dem Bundestag an: Katharina Landgraf, Michael Luther, Maria Michalk (alle CDU), die Sozialdemokraten Hans-Joachim Hacker, Rolf Schwanitz und Wolfgang Thierse sowie von der Linksfraktion Roland Claus, Dagmar Enkelmann und Gregor Gysi.

Viele andere von ihnen, "darunter viele heute vergessene, stille Helden der Revolution, haben die politische Bühne längst wieder verlassen", sagte Lammert und verwies darauf, dass der Bundestag ohne das Wirken der damaligen Volkskammerabgeordneten "heute weder in Berlin tagen noch das ganze deutsche Volk vertreten könnte". Umso mehr freute sich der Bundestagspräsident, dass seit dem Jubiläumstag vom Internetangebot des Bundestages aus auf biografische Kurzinformationen über alle Abgeordneten der 10. Volkskammer zugegriffen werden kann. Dort finden sich auch sämtliche Plenartagungen des frei gewählten DDR-Parlaments "in Ton, Bild und als Druckdokumente", wie Lammert erläuterte: mehr als 200 Stunden Fernsehaufzeichnungen und über 6.000 Seiten mit Protokollen und Drucksachen - für Schulen, Wissenschaft, Medien und politische Bildungsarbeit "einmalige Quellen aus einer der interessantesten Phasen deutscher Parlamentsgeschichte". Ein achtminütiger Zusammenschnitt dieses TV-Materials ließ unter der Reichstagskuppel ein wenig die besondere Atmosphäre der damaligen Volkskammersitzungen wieder lebendig werden.

Einsamer Rekord

Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 fand statt "in Tagen, die geprägt waren durch diesen merkwürdigen Rausch der Begeisterung an der Veränderung und (...) durch eine tiefe Sehnsucht nach neuen, demokratisch legitimierten Formen", wie es anschließend de Maizière formulierte. Der heute 70-Jährige, der seine Rede als "Plädoyer für die Freiheit" verstanden wissen wollte, erinnerte daran, dass die Ostdeutschen seiner Generation vor dem 18. März 1990 noch niemals demokratisch gewählt hatten. "Wer in der DDR lebte und 1932 als 20-Jähriger an den Novemberwahlen zum Reichstag teilgenommen hatte, musste nun 77 Jahre alt geworden sein, um wieder frei zu wählen", rechnete de Maizière seinen Zuhörern vor. Auch deshalb, resümierte er, habe diese Wahl die Menschen elektrisiert, und mit der damaligen Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent werde man "wohl noch lange einen einsamen Rekord halten".

Für den früheren Ministerpräsidenten war es der "gemeinsame Freiheitswille (...) eines ganzen Volkes", der "die Entwicklungen 1989 auslöste und in der Folge für ihren immer stürmischeren Verlauf sorgte". Dabei sei die freie Volkskammerwahl ein "Plebiszit zur deutschen Einheit", der "Weg zur Einheit in Freiheit" indes sowohl eine "großartige Tat" als auch ein "wunderbares Geschenk" gewesen. "Die Einheit war unsere eigene Leistung und doch etwas, das wir nicht ganz uns selbst zu verdanken haben", sagte de Maizière. "Wir haben die Geschwindigkeit der Entwicklung, die Eigendynamik nicht vorausgesehen", räumte der einstige Regierungschef ein, um nicht ohne Stolz hinzuzufügen: "Aber wir haben mit ihr Schritt gehalten, und wir haben in ihr bestanden".

Kritik an TV-Sendern

Lammert erinnerte mit Blick auf den Protest gegen die gefälschten DDR-Kommunalwahlen vom Mai 1989 und die folgenden Demonstrationen daran, dass das "mutige Engagement einer Minderheit" am Ende der Mehrheit die freie Stimmabgabe am 18. März 1990 ermöglicht habe. Dabei habe der Wahlausgang nicht die Hoffnungen aller erfüllt, sondern viele überrascht: "Vertreter der Bürgerrechtsbewegung, die mit ihrem Widerstand die freien Wahlen ermöglicht hatten, fanden sich in der parlamentarischen Opposition wieder." Ihre Bedeutung sei "in dieser Rolle indes kaum weniger groß als zuvor" gewesen, fügte Lammert hinzu. Schließlich, argumentierte er, zeige sich "die demokratische Reife eines politischen Systems vor allem am Vorhandensein einer Opposition und an ihren politischen Wirkungsmöglichkeiten".

Deutliche Kritik äußerte der Parlamentspräsident an den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, weil die Feierstunde nur im Spartenkanal Phoenix übertragen wurde. Er hätte sich gewünscht, dass sie "ihre alltäglichen Vormittagsprogramme hierfür für eine ganze Stunde einem breiten Publikum geöffnet hätten".