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Ein zivilisatorischer Rückfall

Kommunismus Gerd Koenen legt 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Abrechnung vor

03.05.2010
2023-08-30T11:25:54.7200Z
3 Min

Eine Abrechnung mit dem Kommunismus hat der bekannte Osteuropa-Historiker Gerd Koenen vorgelegt. In einer kurzen vergleichenden Analyse beschreibt er die Ideologie in ihren konkreten historischen Erscheinungsformen. Rund 20 Jahre nach dem Zerfall des kommunistischen Blocks sei die Zeit gekommen, die post-kommunistischen Gesellschaftsbildungen unter Einbeziehung der neuen Quellenlage in den Blick zu nehmen. Und Koenen widerspricht dem ehemaligen KP-Intellektuellen Eric Hobsbawm: Der Sozialhistoriker vertritt die Ansicht, der Kommunismus habe den Niedergang der kapitalistischen Welt dadurch verhindert, dass er sie gezwungen habe, "sich selbst zu reformieren".

Koenen beginnt seinen eindrucksvollen Essay mit einer ausführlichen Beschreibung des "historischen Ortes des Bolschewismus". Er zitiert aus Jürgen Osterhammels, Buch "Die Verwandlung der Welt" über die Geschichte des 19. Jahrhunderts, nach dem die russische Doppelrevolution der Jahre 1905 und 1917 nur indirekt dem euro-atlantischen "Zeitalter der Revolution" zugerechnet werden kann. Stattdessen habe in Russland ein neuer Zyklus der euroasiatischen Revolutionen eingesetzt: Dieser Prozess habe im Zuge der globalen Entwicklungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer Serie innerer Brüche und Reformbewegungen in China, der Türkei, dem Iran und Russland geführt. In allen diesen Fällen lieferten die militärischen Niederlagen gegen modernere, ausländische Imperialismen und die daraufhin erzwungenen "Öffnungen" für den von westlichen Mächten kontrollierten Welthandel und Kapitalmarkt den entscheidenden Anstoß. Allerdings hätten die Kommunisten in Russland und China "alle Horizonte der historischen Arbeiterbewegung und des zeitgenössischen Marxismus radikal überschritten, so auch alle Motive und Ziele dieser ‚euroasiatischen Revolutionen'".

Entfesselter Terror

Koenen versteckt sich nicht hinter bekannten historischen Tatsachen, sondern er sucht nach Erklärungen, ohne dabei seine Zweifel zu verheimlichen. So sei es schwierig, die verschiedenen Faktoren, die zum Sieg der Bolschewisten führten, in ein schlüssiges Gesamtkonzept zu gießen. Er unterschlägt nicht, dass ihr Sieg nur durch einen entfesselten Terror erreicht wurde und einen "zivilisatorischen Rückfall unerhörten Ausmaßes" bedeutete. In Russland verloren damals nach offiziellen Angaben 10,8 Millionen Menschen ihr Leben, der anschließenden Hungersnot fielen weitere 5 Millionen zum Opfer. Leider führt Koenen an dieser Stelle nur stark gekürzte Zitate aus zwei Befehlen Lenins an, die erklären, wie die Kommunisten das Riesenreich besetzen konnten. Lenin forderte in einem der Befehle, die in der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden durften, die "gnadenlose Vernichtung" der Kulaken in den ländlichen Bezirken: "Aufzuhängen (unbedingt aufhängen, damit das Volk sie sieht) nicht weniger als hundert notorische Kulaken, Reiche, Blutsauger."

Besonders gelungen ist Koenens Schilderung des Übergangs vom russischen zum "Weltkommunismus", die sogenannte Genese der "Weltpartei" (KomIntern). Sie kontrollierte die Tätigkeit der von der Sowjetunion gegründeten kommunistischen Parteien im Ausland, deren Finanzierung und ideologische Führung.

Herausragend ist auch Koenens Analyse der politischen Ökonomie des real existierenden Sozialismus: Er entlarvt das propagandistisch aufgeblasene Plansystem als einen riesigen Selbstbetrug. Am Ende wurde das sowjetische Regime selbst Opfer seiner eigenen massiven Desinformationspolitik. Die Vorstellung, Millionen von Einzelprodukten und darauf ausgerichtete Produktionsprozesse zentral planen zu können, sei irreal. Tatsächlich waren die legendären Fünfjahrespläne rein propagandistische Projekte ohne bindende Wirkung. Dass die sowjetische Wirtschaft schließlich in einer Tauschwirtschaft endete und zusammenbrach, beweist vor allem, dass das kommunistische System ohne Terror und die Sklavenarbeit seiner Bürger nicht mehr funktionsfähig war. Die Anführer der chinesischen Kommunisten, die mit ähnlichen Entwicklungen konfrontiert wurden, zogen rechtzeitig die Notbremse. Um ihre Herrschaft langfristig zu sichern, änderten sie radikal ihren Kurs und zögerten nicht, die kapitalistische Ordnung der freien Marktwirtschaft einführten.

Ein ungelöstes Rätsel

Viel zu kurz kommt bei Koenen leider die Entstehung des kommunistischen Systems in Asien mit der Gründung der KP Chinas als Vorreiter. Zu Recht weist er allerdings darauf hin, dass der chaotische Weg Chinas unter Mao Tse-Tung bis heute ein ungelöstes Rätsel sei. Die Volksrepublik habe fast die gesamte sowjetische Entwicklung nachvollzogen; wie Koenen vermutet, als Folge ähnlich wirkender Handlungslogiken und entgleisender Prozessdynamiken.

Dass der Autor jedoch mit Blick auf die unterschiedlichen Wege, die die Sowjetunion und die Volksrepublik China einschlugen, so etwas wie ein "Schwarzes Loch" hinterlässt, bleibt aus Sicht des Lesers ein Manko: Die Frage, wie und warum es den Chinseen genau gelang, einen Ausweg aus der planwirtschaftlichen Falle zu finden, bleibt unbeantwortet.

Im Unterschied dazu hat Koenen den Übergang vom sozialistischen Regime der Sowjetunion in die Marktwirtschaft unter Leitung der ehemaligen Nomenklatura überzeugend dargestellt.

Gerd Koenen:

Was war der Kommunismus?

Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010; 143 S., 9,90 €