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Das zähe Ringen der Institutionen

EU-GESETZGEBUNG Nationale Parlamente und das Europaparlament profitieren vom Lissabon-Vertrag

03.05.2010
2023-08-30T11:25:54.7200Z
6 Min

Manchmal kann es selbst in Brüssel relativ schnell gehen. Nach der Pleite der Investmentbank Lehman im September 2008 beschloss die EU binnen drei Monaten, die Einlagensicherung bei Banken zu erhöhen. Europäische Sparer sollten geschützt werden. Doch solche Eilverfahren sind die absolute Ausnahme. Im Schnitt vergehen sechs Jahre, bis eine Idee in Paragrafen mündet. "Wir können auf europäischer Ebene selbst kleine Dinge nicht schnell erledigen", sagt Catherine Day, die Generalsekretärin der EU-Kommission. Das Verfahren zieht sich, weil zunächst die EU-Kommission einen Vorschlag vorlegt, dem dann die Mitgliedstaaten und in den meisten Fällen auch das Europaparlament zustimmen muss. Anschließend wird er von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt.

Brüssel gilt jedoch zu Unrecht als undurchsichtig: Die EU-Kommission veröffentlicht jedes Jahr ein Arbeitsprogramm mit ihren Gesetzesvorschlägen. Ende März präsentierte sie eine 43-seitige kleingedruckte Liste der Initiativen bis Dezember 2010 - von der Verbesserung der Transparenz im Derivate-Markt bis zu einer Neufassung des ersten Eisenbahnpakets. Bevor die Themen auf der Liste erscheinen, haben die Kommissionsbeamten schon zwei Jahre daran gearbeitet. Bei großen Vorhaben ist der Gesetzesvorschlag sogar das Ergebnis eines längeren Konsultationsprozesses. Bei neuen Themen stößt die Kommission die Diskussion mit einem sogenannten Grünbuch an, zu dem Bürger, Interessengruppen und Unternehmen Stellung nehmen können. Die meist recht allgemein gehaltenen Vorschläge des Grünbuches münden dann häufig in einem sogenannten Weißbuch mit konkreten Vorschlägen, das ebenfalls einer Konsultation unterworfen wird. Bevor die Kommission einen Gesetzesvorschlag vorlegt, fertigt sie auch eine Gesetzesfolgenabschätzung an. Kritiker monieren allerdings, dass eine unabhängige Evaluierung sinnvoller wäre.

Lobbyisten, von denen in Brüssel rund 15.000 arbeiten, versuchen oft schon im Vorfeld der Veröffentlichung eines Vorschlags, darauf Einfluss zu nehmen. Eine beliebte Methode ist es, vorläufige Versionen an die Öffentlichkeit zu bringen und damit Proteste auszulösen. So stieß der Vorschlag der früheren Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes zu Sammelklagen für Kartellopfer auf die Ablehnung der Wirtschaft und der Regierungen Deutschlands und Frankreichs - der Vorschlag verschwand erst einmal in der Schublade.

Dass Themen zurückgestellt werden, kommt immer wieder vor. Manchmal kommt der Widerstand sogar aus den eigenen Reihen, denn die Interessen der einzelnen Generaldirektionen der EU-Kommission - das sind die "Ministerien" Europas - decken sich nicht unbedingt. So hat die Generaldirektion Industrie 2007 heftig mit der Generaldirektion Umwelt über die CO2-Limits für Automobilhersteller gestritten. Umweltschutzargumente prallten auf Bedenken vor Mehrkosten für die Industrie.

Damit alle Generaldirektionen von den Gesetzesvorschlägen erfahren, durchlaufen alle Vorhaben die sogenannte Inter-Service-Konsultation. Dabei können alle Generaldirektionen prüfen, ob ihr Aufgabenbereich beeinträchtigt würde. Auch der juristische Dienst der Kommission begutachtet den Vorschlag, ebenso wie die Stabschefs der 27 Kommissare. Die sogenannten Kabinettschefs treffen sich jeden Montag in ihrer "hebdo" genannten Sitzung und gehen die Vorschläge durch, über die am Mittwoch die Kommissare entscheiden. Herrscht allgemeine Einigkeit, dann wird der Vorschlag mit einem A versehen und zwei Tage später ohne Diskussion durchgewinkt. Landet ein Vorschlag dagegen als B-Punkt auf der Tagesordnung der Kommissionssitzung, so debattieren die Kommissare darüber. Theoretisch müssten die Kommissare über die Vorschläge mit einfacher Mehrheit abstimmen. In der Praxis finden jedoch selten Abstimmungen statt, die Kommissare entscheiden im Konsens.

Grundsätzlich stehen der Kommission zwei juristische Instrumente zur Verfügung: Sie kann Verordnungen oder Richtlinien vorschlagen. Verordnungen sind fertige Gesetze, die dann angewendet werden, wenn Bereiche möglichst einheitlich geregelt werden sollen. Das trifft zum Beispiel auf die Roaming-Verordnung zu, die Obergrenzen für das Telefonieren mit dem Handy im EU-Ausland festlegt. Bei einer Richtlinie dagegen wird ein Ziel vorgegeben, das die Länder erreichen müssen, indem sie ein Gesetz erlassen, etwa bei der Anti-Diskriminierungsrichtlinie. Doch ob Richtlinie oder Verordnung: Der Vorschlag der Kommission gibt nur die Richtung vor. "Das Endergebnis im europäischen Gesetzgebungsverfahren sieht immer anders aus als die Vorlagen der Kommission", sagt EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

Mehr Parlamentsrechte

Der Vertrag von Lissabon bringt nun eine wichtige Neuerung: Sobald die Kommission einen Vorschlag vorlegt, muss er auch an die nationalen Parlamente versandt werden. Binnen acht Wochen können sie dann Einspruch dagegen einlegen. So können sich nationale Parlamente jetzt wehren, wenn sie das Subsidiaritätsgebot verletzt sehen und ein Thema lieber auf nationaler Ebene geregelt wissen möchten. Wenn ein Drittel der Parlamente ein Veto einlegt, muss die Kommission ihren Vorschlag überdenken. Wenn die Hälfte der nationalen Parlamente ein Veto einlegt, muss die Kommission begründen, warum sie keinen neuen Vorschlag vorlegt. In diesem Fall kann die Gesetzesinitiative der Kommission mit 55 Prozent der Stimmen der Mitgliedsländer oder mit einfacher Mehrheit im Europäischen Parlament abgelehnt werden.

Außerdem hat der Vertrag von Lissabon die nationalen Parlamente aufgewertet, weil er ihnen über die nationalen Regierungen die Möglichkeit gibt, vor dem Europäischen Gerichtshof eine Subsidiaritätsklage einzubringen. Wenn der Gerichtshof entscheidet, dass die Gesetzesinitiative der Kommission gegen das Prinzip der Subsidiarität verstößt, muss die Kommission den Vorschlag zurückziehen.

Initiativrecht des EU-Parlaments

Seit diesem Februar gibt es ein weiteres Novum: Das Europaparlament hat das Initiativmonopol der Kommission in einer inter-institutionellen Vereinbarung geknackt. Die Abgeordneten können nun ein Gesetz fordern. Innerhalb von drei Monaten muss die Kommission auf die Forderung reagieren und binnen eines Jahres den Gesetzentwurf vorlegen. Kann oder will sie das nicht, muss sie sich dem Parlament erklären.

Das Verfahren läuft dann wie üblich weiter. Der Kommissions-Vorschlag geht ins Europäische Parlament, wo ein Abgeordneter aus dem zuständigen Fachausschuss zum Berichterstatter ernannt wird. Die anderen Fraktionen ernennen Schattenberichterstatter, die das Thema aufmerksam verfolgen. Ein Berichterstatter hat sehr viel mehr Einfluss als ein Parlamentarier in einem nationalen Parlament. "Im Vergleich zu einem einfachen Abgeordneten im Bundestag hat ein Europaabgeordneter größere Gestaltungsmacht", weiß der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir aus seiner Zeit in Brüssel und Straßburg. "Ein Abgeordneter, der zum Berichterstatter bei einem wichtigen Thema wird, ist quasi die Sonne, um die für eine bestimmte Zeit die Satelliten EU-Kommission und EU-Ministerrat sowie die jeweiligen Verbände und Interessenorganisationen kreisen müssen, wenn sie sein Gesetzesvorhaben beeinflussen wollen", schildert Özdemir. Die Abgeordneten können Änderungsanträge zum Kommissionsvorschlag einreichen, für die sie eine Mehrheit brauchen. Bei kontroversen Gesetzesvorhaben kommen schnell mehr als 1.000 solcher Änderungsanträge zusammen. Zunächst wird im Ausschuss abgestimmt, dann im Plenum des EU-Parlaments.

Parallel zum Parlament befassen sich die 27 EU-Mitgliedstaaten im Rat mit dem Vorschlag der Kommission. Sind sie mit denn Änderungen des Parlaments einverstanden, ist das Gesetz in erster Lesung verabschiedet. Dies kommt allerdings sehr selten vor, meist haben die Mitgliedstaaten andere Vorstellungen als das Parlament. Sie erarbeiten dann eine gemeinsame Position, die zu einer zweiten Lesung ins Parlament geht. Wenn das Parlament daran Änderungen will, braucht es dafür wiederum die Zustimmung des Rates. Liegen Parlament und Rat auch nach der zweiten Lesung nicht auf einer Linie, dann wird in einem Vermittlungsausschuss verhandelt, der aus 27 Abgeordneten und 27 Rats-Vertretern besteht. In Nachtsitzungen kommt meistens eine Einigung zustande, manchmal bleiben die Verhandlungen aber auch erfolglos.

Nicht jeder Vorschlag der Kommission meistert alle Hürden des langen Parcours, manchmal fehlen Mehrheiten. So kam ein Vorschlag der Kommission aus dem Jahr 2004 nicht voran, mit dem der Designschutz für Autoersatzteile abgeschafft werden sollte. Dadurch würden Reparaturen billiger. Die Autoindustrie fürchtet jedoch Verluste und hat die Bundesregierung auf ihrer Seite. Im Rat haben sich Frankreich und mehrere osteuropäische Staaten angeschlossen. Sie bilden eine Sperrminorität, die eine ausreichende Mehrheit verhindert.

Mit dem Vertrag von Lissabon sind einstimmige Entscheidungen im Rat selten geworden, sie gelten nur noch bei wenigen Themen wie Steuern und Vertragsänderungen. Bei den meisten Entscheidungen wird mit qualifizierter Mehrheit gearbeitet. Dabei orientiert sich die Zahl der Stimmen, über die die Mitgliedsländer verfügen, grob an der Einwohnergröße. Ab 2014 gilt der neue Abstimmungsmodus des Lissabon-Vertrags, wonach 55 Prozent der Mitgliedstaaten (derzeit 15 von 27), die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, einem Vorschlag zustimmen müssen, ehe er beschlossen wird. Fehlt im Rat eine solche Mehrheit, können Gesetzesvorschläge Jahre lang blockiert sein - möglicherweise für immer. Mancher Vorschlag der EU-Kommission findet nie seinen Weg in die Gesetzbücher. Andernfalls gilt: Die Mitgliedstaaten müssen die Ratsbeschlüsse umsetzen. Dafür bekommen sie in der Regel zwei Jahre Zeit. Oft beginnt dann erst in den Mitgliedstaaten eine öffentliche Debatte zu dem Gesetzesvorhaben, wie es etwa bei der Gleichstellungsrichtlinie der Fall war. Allerdings ist es dann zu spät - nichts kann mehr geändert werden.

Die Autorin arbeitet als Korrespondentin der "Wirtschaftswoche" in Brüssel.