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Der europäische Werkzeugkasten des Bundestages

KOMPETENZEN Durch den Lissabon-Vertrag und die deutschen Begleitgesetze hat das deutsche Parlament viele neue Rechte bekommen

03.05.2010
2023-08-30T11:25:54.7200Z
3 Min

Häppchen gab es nicht, und am Ende vermeldete Hermann Otto Solms (FDP) ohne Prosit gewohnt sachlich: "Ich schließe die Aussprache." So unspektakulär endete vor zwei Wochen eine Premiere im Bundestag - die einstündige Debatte zu den geplanten Beitrittverhandlungen der Europäischen Union (EU) mit Island. Dabei hatte der Bundestag erstmals von seinem neuen Recht Gebrauch gemacht, über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einem EU-Beitrittskandidaten abzustimmen. Die Abgeordneten nutzten ihre Befugnis, die Bundesregierung bei Verhandlungen auf ihre Position zu verpflichten. Nur "aus wichtigen außen- oder integrationspolitischen Gründen" darf diese nun vom Beschluss (17/1190, 17/1464) abweichen, mit dem der Bundestag der Aufnahme von Verhandlungen mit Island zugestimmt hat.

Vetorechte

Dieses Recht ist eines in einer Reihe zusätzlicher Beteiligungsrechte, die das Parlament mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon erhalten hat: In elf Artikeln weist der Vertrag selbst den nationalen Parlamenten nunmehr eine Rolle zu. Größtenteils handelt es sich dabei um Informationsrechte und Unterrichtungspflichten; festgelegt sind aber auch Vetorechte. So kann der Bundestag etwa verhindern, dass sogenannte Brückenklauseln genutzt werden. Diese Klauseln ermöglichen es, den Abstimmungsmodus im Ministerrat zu ändern. Wo normalerweise alle Vertreter der Regierungen zustimmen müssen, reicht nach erfolgreicher Aktivierung der Brückenklausel eine qualifizierte Mehrheit aus. Die nationalen Parlamente haben die Möglichkeit, eine solche Änderung innerhalb von sechs Monaten direkt auf europäischer Ebene zu stoppen. Umfangreich geregelt ist auch, wie die nationalen Parlamente kontrollieren können, dass der Grundsatz der Subsidiarität eingehalten wird.

Wie effektiv diese Instrumente in der Praxis sein werden, ist unter Wissenschaftlern umstritten - Politiker aus dem EU-Ausschuss des Bundestags halten fraktionsübergreifend etwas anderes für entscheidender: "Es ist ein wichtiger Schritt, dass die nationalen Parlamente im Vertrag überhaupt genannt sind", sagt etwa Manuel Sarrazin (Bündnis 90/Die Grünen). "Die Mitverantwortung des Bundestags ist damit öffentlich manifestiert", betont auch Michael Roth (SPD).

Grundlegend neu

Rund 40 Jahre lang haben die nationalen Parlamente fast keine Rolle gespielt im Primärrecht, also in den vertraglichen Grundlagen der EU. Der Vertrag von Maastricht berücksichtigte sie 1992 zwar in einer Erklärung. Doch erst der Vertrag von Amsterdam verankerte sie 1997 im "Protokoll über die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäischen Union" im Primärrecht. Der Vertrag von Nizza brachte keine Änderungen. Anders nun im Vertrag von Lissabon. Allerdings: Die praktisch wichtigeren Veränderungen für die Abgeordneten folgen aus den Begleitgesetzen. Diese hatte der Bundestag im vergangenen Jahr im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon grundlegend neu strukturieren müssen. Das Gericht hatte kritisiert, dass zu viele Entscheidungen auf europäischer Ebene allein von der Bundesregierung getroffen werden können, und gefordert, den Bundestag stärker einzubinden. Diese Zuständigkeit ist nun im "Integrationsverantwortungsgesetz" ausbuchstabiert. Dort sind mehr als 25 verschiedene Fälle genannt, in denen Bundestag und Bundesrat künftig ein Gesetz beschließen oder einen Beschluss fassen müssen. Meistens darf die Regierung erst danach in Brüssel ihre Stimme abgeben. Praktisch bedeutsam dürfte vor allem die "Flexibilisierungsklausel" sein: Die Vorschrift ermöglicht es dem Ministerrat, ausnahmsweise europäische Vorschriften auch ohne ausdrückliche EU-Kompetenz zu erlassen. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Nizza im Jahr 2001 weist die Europa-Datenbank "EUR-Lex" mehr als 240 dieser Fälle aus. In Zukunft müssen Bundestag und Bundesrat solchen Ausnahmen zustimmen.

In Gesetzesform gegossen wurde auch die Kooperationsvereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregierung: Das "Zusammenarbeitsgesetz" (EUZBBG) konkretisiert die in Artikel 23 des Grundgesetzes festgelegte Unterrichtungspflicht der Bundesregierung in europäischen Fragen gegenüber dem Parlament. Es enthält außerdem Details zum Recht des Bundestages auf Stellungnahmen zu EU-Vorhaben und das Erfordernis des Einvernehmens vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen. Die Premiere zu Island sei übrigens auch ohne Häppchen und Sekt "hervorragend und beispielgebend gelaufen", findet Veronika Bellmann (CDU).