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Ein Paukenschlag

EP Die Ablehnung des Swift-Vertrages war erst der Anfang: In der Innen- und Justizpolitik hat das EU-Parlament neue Macht

03.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
4 Min

Der Paukenschlag war kräftig: Am 11. Februar 2010, gut zwei Monate nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon kippte das Europaparlament das "Swift"-Abkommen zwischen der Europäischen Union und den USA. Es hätte der US-Regierung weiter Einblick in die Banküberweisungen europäischer Kunden verschaffen sollen. Das Votum des Parlaments war nicht so sehr eine parteipolitische Entscheidung als eine bewusste Machtdemonstration. Eine breite Mehrheit aus allen Fraktionen hat eine ideale Gelegenheit genutzt, um zu zeigen, dass die Karten in der europäischen Justiz-und Innenpolitik künftig anders gemischt werden. Denn mit nur wenigen Ausnahmen stellt der Vertrag von Lissabon in diesem Kernbereich europäischer Politik die EU-Abgeordneten als gleichberechtigte Gesetzgeber neben die EU-Regierungen. Der Europaabgeordnete Manfred Weber (EVP) lobt das fraktionsübergreifende "Selbstbewusstsein" der europäischen Volksvertretung gegenüber den 27 EU-Regierungen. "Es ist doch kaum vorstellbar, dass irgendein nationales Parlament ein Abkommen stoppen würde, das von der eigenen Regierung ausgehandelt worden ist", meint der Politiker. Auch den Abkommen über Fluggastdaten mit den USA und Australien (PNR) müssen die Parlamentarier nun zustimmen.

Millimeter um Millimeter

Die Vorgänge um Swift sind nur ein Beispiel für die neuen Einflussmöglichkeiten der EU-Volksvertretung in der Justiz -und Innenpolitik. Kein anderer politischer Bereich in Europa wird durch den Vertrag von Lissabon so erneuert wie dieser "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Bisher haben sich die EU-Staaten in diesem Raum nur ganz vorsichtig bewegt, denn er berührt sensible nationale Hoheitsrechte. Zwei Jahrzehnte lang schlossen die Regierungen das EU-Parlament von den meisten Abstimmungen aus, kamen aber selbst nur millimeterweise voran, weil sie sich nur einstimmig einigen konnten. Nun aber gelten in der Mehrzahl der Fälle Abstimmungen mit Mehrheit, und die Minister müssen dabei erstmals die gleichzeitig laufende Willensbildung im Parlament berücksichtigen. Die Politik könnte sich durch diesen Systemwechsel erheblich beschleunigen. Das EU-Parlament entscheidet künftig nicht mehr nur über die Asylverfahren mit, sondern auch über die Visapolitik, die Grenzsicherung und die Zuwanderung. Bislang konnten die Abgeordneten nur Gesetze zur Abwehr illegaler Einwanderung wie etwa die Rückführungs-Richtlinie mitgestalten. Dagegen hatten sie bei der Blue-Card-Initiative zur legalen Einwanderung nichts zu sagen. So wurden in Brüssel im institutionellen Dreieck von Kommission, Rat und Parlament immer nur Bruchstücke verhandelt, aber nie umfassende Politik aus einem Guss. Das könnte sich jetzt ändern.

Auch die europäische Zusammenarbeit der Polizei wird mit dem Vertrag von Lissabon aus der Grauzone geholt. Das Parlament entscheidet mit über den grenzüberschreitenden Informationsaustausch und über die Befugnisse der EU-Schaltstellen Europol und Eurojust. Außerdem können die EU-Abgeordneten künftig das Strafmass bei grenzüberschreitenden Verbrechen mitbestimmen, sich um Rechte von Angeklagten in Strafprozessen kümmern und die Regeln für die Zusammenarbeit im Zivilrecht beeinflussen. Der EVP-Abgeordnete Manfred Weber sieht für die Innen-und Justizpolitik schon eine dynamische Entwicklung wie beim Binnenmarkt voraus: "Justiz und Inneres wird das nächste große Harmonisierungsfeld". Der hohe Berg einsamer Regierungsentscheidungen jedenfalls ist im Bereich Justiz und Inneres zusammengeschrumpft: Vetorechte behalten sich die Regierungen noch bei besonders sensiblen Bereichen wie Pässen und Ausweisen oder beim Familienrecht vor.

Notbremse Das EU-Parlament wird um viele seiner neuen Rechte im Detail auch noch kämpfen müssen. So haben die Abgeordneten bereits angekündigt, sie wollten den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anrufen, um ihre Mitwirkungsrechte bei der Aufstellung der sogenannten "Terrorliste" durchzusetzen, auf der sich Personen befinden, die als Terroristen gelten und deren Konten deshalb europaweit eingefroren wurden. Auch über die Bedeutung der aufgewerteten Charta der Grundrechte für die Gesetzgebung sind "viele neue rechtliche Fragen aufgetaucht", erklärt die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. So könnte die Justiz-und Innenpolitik in Europa künftig auch zum Schauplatz etlicher inter-institutioneller Konflikte werden. Denn die EU-Regierungen haben ihre bisherige Domäne nicht einfach nur so geräumt, sondern sie mit einigen "Notbremsen" ausgestattet. EU-Staaten, die durch Mehrheitsentscheidungen Angriffe auf ihre nationalen Rechtsordnungen befürchten, können Einspruch erheben und die Gesetzgebung vorläufig stoppen. In Deutschland wiederum hat das Bundesverfassungsgericht gerade im Justiz-und Innenbereich die Einspruchsrechte des Bundestags und des Bundesrats weit mehr gestärkt als es der Vertrag von Lissabon für nationale Parlamente vorgesehen hat. Das Europaparlament täte also gut daran, seine neuen Rechte im engen Einklang mit den Fraktionen in den nationalen Parlamenten auszuüben. Auf jeden Fall birgt die neue Machtfülle für das Parlament eine echte Bewährungsprobe. Manfred Weber sagt: "Wir müssen künftig bis ins Detail Verantwortung übernehmen. Die Zeit der politischen Wunschzettel ist vorbei." Cornelia Bolesch z

Die Autorin war Europa-Korrespondentin der "Süddeutschen Zeitung" und

arbeitet heute als freie Journalistin.