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Gesichter Europas

PORTRÄT Was bedeutet es heute, Europapolitik zu machen? Elisabeth Jeggle und Axel Schäfer können davon einiges erzählen

03.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
5 Min

Elisabeth Jeggle hat heute keine Zeit für unwichtige Details. "Das ist mir egal, wo Sie sich hinsetzen!" ruft sie resolut, während sie zwischen Schreibtisch und Aktenschrank hin und her hechtet. Sie kommt gerade aus einem Meeting, will noch ein Interview geben und sich außerdem frisch machen. Denn gleich fängt die Sitzung an. Die Sitzung, die nach eineinhalb Jahren zäher Verhandlungen die entscheidende sein könnte.

Auf dem Tisch liegt schon der Gesetzentwurf, er ist mehrere Zentimeter dick. Daneben ein Stapel Dokumente, in denen mit Neonmarker einzelne Passagen angestrichen sind. Im Vorzimmer hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Zwei Assistenten, ein politischer Berater der Fraktion und zwei Praktikanten warten auf die Chefin.

Das Gesetz, das gleich verhandelt werden wird, ist die Neuauflage der europäischen Richtlinie über Tierversuche. Es geht um die heikle Gratwanderung zwischen dem Tierschutz und den Interessen der Forschung, die gegen Konkurrenz aus Ländern mit niedrigen Standards kämpft. Die EVP-Abgeordnete Jeggle ist die Berichterstatterin des EU-Parlaments. Mit Tieren hat die 62-Jährige viel Erfahrung: Sie war jahrzehntelang Bäuerin im schwäbischen Biberach.

Seit 1999 sitzt Jeggle im Agrarausschuss des Europaparlaments. Sie wird die Gastgeberin des Treffens sein, das gleich hinter verschlossenen Türen stattfindet. Es handelt sich um einen "Trilog": Ein Vermittlungsausschuss wurde einberufen, weil in erster Lesung keine Einigung zustande kam. Das Gremium besteht aus Delegationen der beiden Streitparteien - EU-Parlament und -Ministerrat in ihrer Rolle als Co-Gesetzgeber - und der Europäischen Kommission als Mediatorin.

Mehr Mitsprache

"Ohne den Lissabon-Vertrag würde es das Treffen heute nicht geben", sagt Jeggle, während sie sich mit einer Bürste durch das kurze dunkle Haar fährt. Denn das Europaparlament hat seit dem 1. Dezember 2009 erheblich mehr Mitspracherechte. Die Landwirtschaft gehört zu den Bereichen, in denen sich am meisten geändert hat. Bei der Gesetzgebung über die Versuchstiere durfte das Parlament zwar auch schon vor dem 1. Dezember vieles mitentscheiden. Aber eben nicht alles.

Es ist höchste Zeit zu gehen. Elisabeth Jeggle fährt in ihr silberschwarz-kariertes Jackett und greift nach ihren Dokumenten. Schon brummt der Aufzug heran. Bereut sie es, die Arbeit als Bäuerin gegen die Brüsseler Polit-Hektik eingetauscht zu haben? "Klar vermisse ich das. Niemand wollte etwas von mir", sagt Jeggle mit ironischem Augenzwinkern. Auch früher wollte ständig jemand was von ihr, ob Landfrauenverband, Sportverein, Deutscher Katholikentag oder ihre Partei.

Nun sind es drei Dutzend EU-Delegierte, die mit Mobiltelefonen und Laptops in Richtung Sitzungssaal strömen. Wenn der Richtlinienentwurf angenommen wird, müssen bei Tierversuchen künftig höhere Schutzstandards eingehalten werden. In Deutschland würde sich dabei weniger ändern als etwa in Süd- und Osteuropa. Über die inhaltlichen Linien sind sich Parlament und Ministerrat bereits einig. Damit ist es aber noch nicht getan. In der Sitzung heute wird über die Umsetzung dieser Linien diskutiert werden.

Der Hintergrund ist eine sehr wichtige Grundsatzentscheidung, die in den Lissabon-Reformen enthalten ist. Es geht um eine Demokratisierung des umstrittenen "Komitologie"-Verfahrens. Für viele Kritiker war diese Prozedur bislang der Inbegriff für Intransparenz und unkontrolliertes Technokratentum in der Europäischen Union. Denn die Detailvorschriften zur Umsetzung von Gesetzen wurden Expertengremien überlassen, ohne jegliche Kontrolle durch das EU-Parlament.

Dabei ging es oft um spröde Fragen: Welche Produkte sollen unter eine bestimmte Regelung fallen, welche Daten müssen gesammelt werden? Häufig war das Technische aber politischer, als es auf den ersten Blick schien. Einen Aufschrei gab es zum Beispiel, als die EU-Kommission 2004 mit Hilfe der Komitologie das Verbot für genetisch veränderte Lebensmittel lockerte. Dass eine Mehrheit der Regierungen dagegen war, kümmerte die Behörde gar nicht.

Lange Debatten

Nun also soll das EU-Parlament in die Komitologie besser einbezogen werden. Und Jeggles Gesetz zu Tierversuchen ist eines der ersten, bei denen das zum Tragen kommt. In ihrem Fall geht es tatsächlich weniger um politische Fragen, sondern mehr um juristische Tüfteleien. Jeggle und ihre Parlamentskollegen - aus jeder Fraktion sitzt jemand am Tisch - wollen aber ein Beispiel setzen. Sie wollen zeigen, dass die Abgeordneten künftig in der Komitologie lautstark mitreden werden.

Dafür nehmen sie gerne in Kauf, dass sich die Debatte über die Tierversuchs-Richtlinie in die Länge zieht. Die Parlaments-Delegation hat eine Rechtsexpertin mitgebracht, die ihre Bedenken über bestimmte Formulierungen mitteilt. An kleinen Details kann sich durchaus eine lange Debatte entzünden: "Bei der letzten Sitzung haben wir über einen einzigen Absatz drei Stunden lang beraten", berichtet ein Assistent von Jeggle, der kurz den Saal verlassen hat. "Irgendwann sind die Dolmetscher nach Hause gegangen und wir haben ohne sie weiterverhandelt."

Um 18 Uhr, eine Stunde nach Beginn der Verhandlungen, schwingt plötzlich die Tür zum Sitzungssaal auf. Heraus kommt, inmitten einer Traube von Delegierten, eine freudestrahlende Elisabeth Jeggle. Die Sitzungsteilnehmer sprechen laut in ihre Handys, beglückwünschen sich gegenseitig. Nach achtzehn Monaten Diskussionen haben sich die EU-Gesetzgeber im Trilog auf die Novelle der Tierversuchsrichtlinie verständigt. "Ich mag das gar nicht glauben", sagt Jeggle.

Zum Feiern ist es noch zu früh, das Plenum des EU-Parlaments und die 27 Regierungen im Ministerrat müssen die Richtlinie noch formell verabschieden. Aber es ist nun sehr wahrscheinlich, dass das Gesetz über die Bühne ist. Die Schlussabstimmung soll vor der Sommerpause stattfinden.

Protest gegen Entwürfe

Wenn das Regelwerk fertig und umgesetzt ist, wird den zwölf Millionen Versuchstieren in Europa das Dasein etwas leichter gemacht. Jeggle weiß, dass das Gesetzeswerk vielen Tierschützern nicht weit genug geht. Die Verbände "Ärzte gegen Tierversuche" und "Vier Pfoten" etwa protestieren seit langem gegen die Entwürfe, weil sie eine massive Verringerung der Zahl der Versuchstiere wollen. "Den Kritikern sage ich: Sie sollen unsere Vorschläge mal mit der alten Richtlinie von 1986 vergleichen", sagt Jeggle.

Immerhin: Versuche, die dauerhafte und nicht linderbare Leiden verursachen, sind künftig im Grundsatz verboten. Diese und andere Regelungen sind wiederum vielen Wissenschaftlern und Konzernen zu streng; die Bundesregierung könnte sich auf Drängen des Forschungsministeriums bei der Abstimmung im Ministerrat enthalten. Elisabeth Jeggle jedenfalls ist überzeugt, dass sie bei der Gratwanderung das Maximum herausgeholt hat. "Wir stärken den Tierschutz in der gesamten EU und sorgen dafür, dass die Grundlagenforschung nicht in Länder mit niedrigeren Standards abwandert", sagt sie, klemmt sich ihre Dokumente unter den Arm und macht sich auf den Weg zum nächsten Termin.