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Parlamentarischer Parforceritt

GRIECHENLAND In nur fünf Tagen hat der Bundestag die Hellenen-Hilfe beschlossen - Szenen einer ungewöhnlichen Woche

10.05.2010
2023-08-30T11:25:55.7200Z
8 Min

Zwiespältige Gefühle habe er, sagt der Herr mit dem grauen Zopf, der am vergangenen Freitag Morgen um Viertel vor neun in der Besucherschlange vor dem Reichstag steht. "Die Griechenland-Hilfe muss wohl sein", seufzt Eckhard Steinseifer aus Heilsbronn Nürnberg, "gezwungenermaßen", es gehe ja darum, den Euro zu retten.

Ähnlich mulmig wie Steinseifer ist heute wohl auch vielen Parlamentariern zumute, die - während Touristen durch die gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes schlendern - zwei Stunden lang das 22,4 Milliarden-Euro-Hilfspaket für die Hellenen abschließend beraten. Werden die Euro den Griechen nicht helfen, wissen alle im Hause, ist das Geld verloren. Geht die Sache aber gut, dann wird die Gemeinschaftswährung ihren Wert behalten.

In ungewöhnlicher Allianz segnen am Ende Union, FDP und die Grünen das Hilfspaket ab, die SPD enthält sich, die Linke stimmt dagegen. "So viel Bauchschmerzen hatte ich noch nie, es geht vielen so", sagt anschließend eine der 391 Abgeordneten, die das blaue "Ja"-Kärtchen in die Urne geworfen haben.

Die Abstimmung ist das Finale einer ungewöhnlichen Woche. In einem parlamentarischen Parforceritt haben die Politiker das Gesetz durch den Bundestag gebracht. Eine Sondersitzung jagte die nächste, Plenardebatten und Ausschusssitzungen mussten ständig verschoben werden, die Verwaltungsmaschinerie lief auf Hochtouren. "Bei der Bankenrettung war es ähnlich hektisch", sagt die Vorsitzende des Haushaltsausschusses, Petra Merkel (SPD), "damals dachten wir: nie wieder!"

Bis zur letzten Minute hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versucht, auch die SPD mit ins Boot zu holen; sie wollte das heikle Hilfspaket mit breiter Mehrheit verabschiedet sehen. Doch eine große Lösung sollte nicht sein: Nicht einmal auf eine gemeinsame Resolution zur Regulierung der Finanzmärkte konnten sich Union, FDP, SPD und Grüne am Ende einigen - die Linke hatte schon ganz früh abgewunken.

Rückblick: Weil schon vor der Sitzungswoche klar war, dass die Zeit drängt, hatte sich der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Peter Altmaier, mit seinen Fraktionsmanager-Kollegen auf ein zügiges Verfahren geeinigt - die Geschäftsordnung des Bundestages lässt dies zu. So war es möglich, dass die erste Lesung des Gesetzentwurfs bereits am zweiten Tag nach dessen Verteilung stattfinden konnte, normalerweise geht das erst am dritten Tag.

Montag

Schon am Montag verkündet Linken-Parteichef Oskar Lafontaine via Frühstücksfernsehen, dass seine Partei dem Gesetz nicht zustimmen werde, weil es weder die Griechen noch den Euro retten werde. Kurz darauf vereinbaren die Obleute des Haushaltsausschusses, Experten für eine Anhörung am Mittwoch einzuladen - normalerweise passiert das erst dann, wenn ein Gesetzentwurf auf dem Tisch liegt. Eine Mitarbeiterin des Sekretariats greift gleich zum Telefon, nachdem sich die Fraktionen zügig gemeinsam auf sieben Namen geeinigt haben. Ein ungewöhnlicher Vorgang, üblicherweise benennen die Fraktionen "ihre eigenen" Experten. Noch am Vormittag beschließt das Kabinett den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Gleich nach der Sitzung berichtet die Bundeskanzlerin allen Fraktionsvorsitzenden über den Griechenland-Rettungsplan. Die Mitglieder des Haushaltsausschusses treffen sich am Nachmittag zum ersten Mal in dieser Woche. Sie beraten den Entwurf - ebenfalls ein ungewöhnlicher Vorgang, denn ein Gesetz landet sonst erst auf der Tagesordnung eines Ausschusses, wenn es offiziell in den Bundestag eingebracht und in erster Lesung beraten wurde.

Noch an diesem Tag treffen sich fast alle Fraktionen. Selbst bei der Union fühlen sich manche Abgeordnete schlecht informiert. Dennoch kann Fraktionschef Volker Kauder aufatmen: Eine "überwältige Mehrheit" stimmt für das Griechen-Hilfspaket. Aber es gibt auch acht Neinstimmen und neun Enthaltungen. Prominentester Nein-Sager ist Bundestagspräsident Norbert Lammert, dem im Entwurf jeglicher Bezug auf das zwischen EU, Weltbank, IWF und griechischer Regierung vereinbarte Sparprogramme fehlt. In der FDP-Fraktion gibt es zwei Neinstimmen und sechs Enthaltungen.

Schon heute deutet sich an: Ohne einen das Gesetz flankierenden Entschließungsantrag zu strengeren Regeln für Stabilitätspakt und Finanzmärkte wird die SPD nicht mitmachen. Eine solche Resolution ist zwar juristisch nicht bindend für die Regierung, aber sie wäre ein starkes politisches Signal.

Während sich die Kanzlerin am Abend auf allen möglichen TV-Kanälen müht, die ungeliebten Griechenland-Hilfen der Öffentlichkeit schmackhaft zu machen, geht um Punkt 19.52 Uhr der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen per Mail beim Parlamentssekretariat des Bundestages ein. Das fünfseitige Dokument bekommt einen Eingangsstempel und die Drucksachennummer 17/1544 und wird an eine externe Druckerei verschickt. Um 21.20 Uhr verteilen Boten die Papierversion in die Fächer der Bundestagsabgeordneten.

Dienstag

Am Dienstag trifft sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit Spitzenbankern, die versprechen, Griechenland weiter mit Krediten zu versorgen. Ein Marketinggag für die einen, ein wichtiges politisches Zeichen für die anderen.

In "den nächsten 24 Stunden" werde an der Resolution gefeilt, sagt CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich wenig später vor Journalisten. Wegen der Tageshektik wäre das legendäre Weißwurst-Frühstück in der Bayerischen Landesvertretung beinahe ausgefallen. Es ist ein Hintergrundkreis, wie es ihn auch von anderen Parteien gibt und auf den die Journalisten gerade in hektischen Zeiten wie diesen angewiesen sind. "Es wäre ungerecht, wenn es ausgerechnet in dieser Woche keine Weißwürste gäbe", sagt Friedrich; die gehetzten Hauptstadtkorrespondenten sind dankbar für ein schnelles Mittagessen.

Währenddessen agieren die beiden Fraktionschefs von SPD und Grünen, Frank-Walter Steinmeier und Jürgen Trittin, hinter den Kulissen in enger Abstimmung. Insbesondere in der Frage der Finanztransaktionssteuer müsse "die Regierung über ihren Schatten springen", sagt Steinmeier. Eine solche Steuer würde auf jeden Verkauf eines Produkts an den Finanzmärkten erhoben, Spekulationen würden somit teurer.

Unbeeindruckt vom politischen Tauziehen bereiten die Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung routiniert die Ausschusssitzungen für den Mittwoch vor: Die Federführung liegt beim Haushaltsausschuss, aber auch der Innen-, Rechts-, Finanz-, Wirtschafts- und EU-Ausschuss müssen ein Votum abgeben. Noch am Abend beschließt die Linksfraktion offiziell, gegen den Gesetzentwurf zu stimmen.

Mittwoch

"Ihr zerstört Maastricht und den Euro" steht auf dem Plakat eines einsamen Demonstranten, an dem an diesem Morgen die dunklen Autos der Parlamentarier und Minister zum Ost-Eingang des Reichtagsgebäudes rollen. Um 8.30 Uhr beginnt die Kanzlerin ihre Regierungserklärung, das Plenum ist voll besetzt. Merkel verteidigt die Hilfen für Athen, sie seien alternativlos.

Realschüler aus Ulm, die die erste Lesung auf der Besuchertribüne verfolgen, staunen über die Schärfe der Debatte. Unions-Fraktionschef Kauder ist schon heiser. Die Aussprache zeigt: Grundsätzlich sind sich zwar alle außer der Linksfraktion einig, dass schon im eigenen Interesse den Griechen geholfen werden müsse. Aber wie die Finanzmärkte gebändigt werden können, darüber herrscht erbitterter Streit. Nach der Debatte entschwinden die Kanzlerin und Lammert nach Ludwigshafen, wo just an diesem Tag der große Europäer und ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl seinen 80. Geburtstag feiert.

Parallel wird hinter den Türen weiter verhandelt. Doch: Die Positionen laufen jetzt immer weiter auseinander: Die FDP lehnt jede Erwähnung der von SPD und Grünen geforderten Finanzmarktsteuer ab. Währenddessen appelliert die Mehrzahl der vom Haushaltsausschuss geladenen Experten an dessen Mitglieder, den deutschen Anteil am Rettungspaket nicht zu blockieren. Die sonst üblichen schriftlichen Stellungnahmen gibt es nicht - dazu war schlicht keine Zeit. Die zwei geladenen Juristen sind uneins, ob nach dem Lissabon-Vertrag Hilfen überhaupt erlaubt sind.

Am Nachmittag stehen Finanzminister Wolfgang Schäuble und der Parlamentarische Staatssekretär Steffen Kampeter (beide CDU) dem Haushaltsausschuss Rede und Antwort, Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) versichert, die Hilfen seien juristisch kein Problem.

Union und FDP bringen im Haushaltausschuss einen Änderungsantrag ein, mit dem klargestellt werden soll, dass die zwischen IWF, EU-Kommission und Europäischer Zentralbank mit Athen ausgehandelten Sparmaßnahmen Grundlage für die Kredite sind. In der geänderten Fassung billigen die Fachleute mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen den Gesetzentwurf, SPD und Grüne enthalten sich, die Linksfraktion stimmt dagegen.

Das Ergebnis mündet in einer Beschlussempfehlung, wie es die Fachleute nennen, die an das Plenum gehen wird. Heute einigen sich die Ausschussmitglieder auf einen technischen Kniff: Sie trennen die kurze Beschlussempfehlung, die schnell getippt ist, vom ausführlichen Bericht über den Beratungsverlauf, der normalerweise dazugehört. Sicher ist sicher: So landet das entscheidende Dokument noch heute fristgerecht im Parlamentssekretariat. Der Bericht wird am nächsten Tag nachgereicht werden.

In den Sitzungspausen sehen die Parlamentarier die Bilder aus Athen, Hundertausende sind auf der Straße, Banken brennen, es gibt Tote. "Natürlich frage ich mich da, ob die Sparpakete angemessen sind", sagt SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider vor laufenden Kameras. Im kurz darauf tagenden EU-Ausschuss sagt der beamtete Staatssekretär Jörg Asmussen zum Hilfspaket: "Dieser Schuss muss sitzen."

Donnerstag

Schon morgens um acht ist direkt unter der Reichstagskuppel die Hölle los, alle Fraktionen treffen sich zu Sitzungen, die Plenardebatte verschiebt sich auf 10.30 Uhr. "Die Verhandlungen zwischen Union und SPD laufen wieder", sagt der Flurfunk. Bis dato hieß es, die SPD werde sich bei der Abstimmung am Freitag enthalten. Ob die Kanzlerin per SMS auf SPD-Chef Sigmar Gabriel zuging oder umgekehrt, bleibt unklar, beide Seiten streuen ihre Variante. Wirklich entschlussfreudig sind am Morgen nur die Grünen, die geschlossen mit "Ja" stimmen wollen. "Unsere Zustimmung ist keine Zustimmung zur Politik der Kanzlerin, sondern soll Solidarität mit Griechenland zeigen", sagt Manuel Sarrazin, europapolitischer Sprecher der Fraktion.

Hektisch wird hinter den Kulissen nach einem Konsens für die Resolution gesucht, die Parlamentarischen Geschäftsführer tagen, gegen 16.00 Uhr platzen die Verhandlungen zwischen Union, FDP und SPD, sie finden keine Formulierung, mit der alle Seiten leben können. Am Ende lehnt die FDP die SPD-Formulierung über eine Steuer auf Finanzmarktgeschäfte ab, die die CDU wohl noch mitgetragen hätte. Steinmeier tritt vor die Journalisten und sagt: "Die Begleitmusik, die es auch außerhalb der Gespräche gab, war nicht so, dass wirkliches Vertrauen entstanden wäre." Am Nachmittag tagen nochmals alle Fraktionen. Das Plenum debattiert bis weit nach Mitternacht, noch bis in die frühen Morgenstunden brennen die Lichter in den Büros der Stenografen.

Freitag

Die Luft knistert im Plenarsaal, zwei Stunden lang debattieren die Parlamentarier so heftig wie selten. Insgesamt neun Mal müssen sie anschließend zur Urne schreiten und mit blauer (Ja), roter (Nein) oder weißer (Enthaltung) Stimmkarte neben dem Gesetzentwurf auch über Änderungs- und Entschließungsanträge namentlich abstimmen. Tatsächlich verabschiedet werden neben dem Hilfspaket der Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen, in dem sie ein Frühwarnsystem und härtere Sanktionen gegen Euro-Sünder fordern. Direkt im Anschluss an die Abstimmung unterschreibt Bundestagspräsident Lammert die Mitteilung an den Präsidenten des Bundesrats, die über das Parlamentssekretariat in Windeseile per Bote physisch und parallel dazu elektronisch zur rund einen Kilometer entfernt liegenden Länderkammer geschickt wird, die um 14.15 Uhr zustimmt.

Nach den Unterschriften von Angela Merkel und allen beteiligten Ministern, versehen mit dem Bundessiegel, bringt ein Bote das Dokument, das jetzt im Fachjargon Urschrift heißt, kurz vor 15 Uhr zum Bundespräsidialamt. Hier wurde das Gesetzgebungsverfahren bereits in den vergangenen Tagen besonders aufmerksam verfolgt, so dass ausnahmsweise eine schnelle Prüfung möglich ist. "Berlin, den 7. Mai 2010, Der Bundespräsident, Horst Köhler", schreibt der Präsident unter das Dokument. Noch am Wochenende tritt das Gesetz in Kraft.