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Leerstellen

BILDUNG Der Berufsbildungsbericht 2010 zeigt: Obwohl die Zahl der Jugendlichen jährlich sinkt, fehlen Ausbildungsplätze

25.05.2010
2023-08-30T11:25:57.7200Z
4 Min

Die Erkenntnis ist nicht überraschend; der Absender ist es auch nicht. Jeder fünfte Lehrling, rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) vor, hat Mängel in der Rechtschreibung, bei weiteren 17 Prozent könne von "Sicherheit" beim richtigen Schreiben "nicht die Rede sein". Im Rechnen sei die Lage "noch ungünstiger". Der Zeitpunkt, zu dem die Spitzenorganisation der Kammern in Deutschland diese Zahlen veröffentlichte, ist allerdings eine Überraschung: Es war im Jahr 1965. Also 45 Jahre, bevor der DIHK vor einigen Wochen den Jugendlichen von heute dramatische Mängel attestierte. Immer mehr Betriebe hätten Schwierigkeiten, geeignete Lehrlinge zu finden, erklärte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben im März. Drei von vier Unternehmen hätten im vergangenen Jahr mit der "mangelnden Ausbildungsreife" von Jugendlichen zu kämpfen gehabt. Alles in allem, resümierte Wansleben, gelte: "Nicht die Lehrstellen, sondern die Bewerber sind knapp".

Tatsächlich sind nicht die Klagen der Wirtschaft über die Mängel der Jugend neu, sondern die Wucht, mit der der demografische Wandel durchzuschlagen beginnt. Bis zu 30.000 Jugendliche weniger verlassen jedes Jahr die Schulen; es sind die Fachkräfte von morgen, die schon heute in der Ausbildung fehlen. Und es ist erst der Anfang. In zehn Jahren, rechnete Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) am vergangenen Donnerstag dem Bundestag vor, werden mehr als drei Millionen Menschen unter 25 Jahren weniger in Deutschland leben. Schon um den Fachkräftemangel zu lindern, müsse man "jedem Jugendlichen eine Chance auf Ausbildung geben".

3.200 Sozialarbeiter

Die Ministerin war gekommen, um den Berufsbildungsbericht 2010 (17/1550) vorzustellen - und um für einen Kabinettsbeschluss zu werben. Stärker als seine Vorgänger weist nämlich der jährlich vom Bundesinstitut für Berufsbildung erstellte Bericht auf ein Paradoxon hin: Ja, es bleiben Ausbildungsplätze unbesetzt - nein, es liegt nicht daran, dass es nicht genug Jugendliche gibt. Immer noch bewarben sich 2009 rund eine Viertelmillion Jugendliche - sogenannte Altbewerber - mindestens zum zweiten Mal um eine Lehrstelle. Auch die Zahl derer, die statt in Ausbildung in Berufsvorbereitungs- oder -orientierungskursen landen, sinkt nur langsam: Immer noch wanderte 2009 beinahe jeder zweite Jugendliche (45 Prozent) von der Schule direkt in das sogenannte "Übergangssystem". Bei mehr als jedem siebten führte das nicht nur zu wenig, sondern zu gar keinem Erfolg: 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen haben keinen Berufsabschluss. Das sind nur fünf Prozent weniger als jene 20 Prozent, die laut Pisa mit 15 Jahren bestenfalls auf Grundschulniveau rechnen und lesen können.

Um die Lücke zwischen unversorgten Bewerbern und unversorgten Betrieben ein bisschen kleiner werden zu lassen, hat das Bundeskabinett ein neues Hilfsprogramm verabschiedet: Die Initiative "Bildungsketten" hat zum Ziel, 60.000 Hauptschülern den Weg zu einem Schulabschluss und in eine Ausbildung zu ebnen. 3.200 Sozialarbeiter - unter ihnen jeder dritte ein ehrenamtlicher "Senior-Experte" - sollen Jugendlichen ab der 7. Klasse mit Rat und Tat zur Seite stehen. Dazu gehört die Hilfe in der Schule, aber auch das Ausleuchten beruflicher Interessen und Eignungen. Gleichsam als "Brückenbauer" sollen sie auf der anderen Seite auch helfen, Betriebstore für benachteiligte Jugendliche zu öffnen. Denn laut einer Umfrage schließt mehr als jedes dritte Unternehmen die Ausbildung von lernschwächeren Jugendlichen für sich bisher aus. Rund 775 Millionen Euro will der Bund bis 2018 für das Programm zur Verfügung stellen. Weiteres Geld soll von der Bundesagentur für Arbeit kommen.

Rundweg ablehnen mochte das Programm keine der im Bundestag vertretenen Fraktionen. Priska Hinz von der Grünen-Fraktion reklamierte gar das Urheberrecht an der Idee: "Sie haben abgeschrieben!", rügte sie die Ministerin und verwies zugleich auf die mangelnde Einbettung in das bestehende und selbst für Experten verwirrende Übergangssystem. Für die Linksfraktion erneuerte Agnes Alpers die Forderung nach einer Ausbildungsplatzumlage für nicht ausbildende Betriebe. Nur so könne das Prinzip, "oben die Besten abzuschöpfen", ohne sich um die Schwächeren zu kümmern, durchbrochen werden.

Der SPD-Abgeordnete Willi Brase mochte so weit nicht gehen. Aber er mahnte: "Die Wirtschaft muss auf ihre große Verantwortung hingewiesen werden". Die SPD forderte zudem, das Ausbildungsprogramm Ost, das schulische wie betriebliche Ausbildungsplätze in den neuen Ländern mit Bundesmitteln unterstützt, in ein Programm für strukturschwache Regionen umzuwandeln.

Für die FDP nahm Heiner Kamp die Wirtschaft in Schutz: "Die Unternehmen sind kein Reparaturbetrieb für ein mangelhaftes Schulsystem". Dass jeder zweite Betrieb Nachhilfe organisiere, beweise ihr Engagement. Tatsächlich sehen sich die Unternehmen nicht nur als Reparaturbetrieb für Schulen, sondern auch für Elternhäuser. Nahezu jeder zweite Betrieb klagt laut DIHK über mangelnde Leistungsbereitschaft, Belastbarkeit und Disziplin.

Nadine Müller von der CDU/CSU warf Grünen und Linken "Schwarzmalerei" vor. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland bei der Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich weit hinten läge, gelte: "Mitmachen statt mies machen!"

Die Anträge der Fraktionen (17/1435, 17/1745, 17/1759, 17/1734) wurden zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen.