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Ein Krieg und doch kein Krieg

DEBATTE Die Auseinandersetzung um einen Begriff und den Isaf-Einsatz

23.08.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
6 Min

Erst nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war, beschäftigten sich die politische Klasse und die Medien in Deutschland eingehender mit dem militärischen Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Die Ereignisse vom 4. September 2009, als die von Taliban-Kämpfern entführten Tanklastwagen bombardiert und dabei mehr als 100 Menschen - darunter Zivilisten - getötet wurden, zwangen die Bundesregierung dazu, den Einsatz am Hindukusch politisch neu zu bewerten.

Die Entscheidung von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), sich vor Oberst Georg Klein zu stellen und die Zustände in Afghanistan "kriegsähnlich" zu nennen, veranlasste die Regierung zu weiteren politischen Schritten. Am 10. Februar 2010 erklärte Außenminister Guido Westerwelle (FDP), "die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischen Organisationen" führe die Koalition zur Bewertung, "die Einsatzsituation von Isaf auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren". Gemeint ist: In Afghanistan herrscht Bürgerkrieg.

Kein Angriffskrieg

Laut Artikel 26 des Grundgesetzes sind Handlungen verfassungswidrig, "die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten. Sie sind unter Strafe zu stellen". Doch in Afghanistan führt Deutschland keinen Angriffskrieg, sondern agiert auf der Grundlage von mittlerweile elf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats.

Die erste wurde bereits am 12. September 2001, einen Tag nach den Anschlägen in New York und Washington, verabschiedet. Resolution 1368 stellte die kollektive Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta fest. Damit legitimierten die USA und ihre Verbündeten die Anti-Terror-Operation "Enduring Freedom". Zudem wertete der Nato-Rat die Angriffe auf die USA vom 11. September 2001 als Angriffe auf alle Bündnispartner im Sinne der Beistandsverpflichtung des Artikels 5 des Nordatlantikvertrages. Allerdings stimmten am 16. November 2001 die rot-grünen Koalitionsfraktionen dem Antrag der Bundesregierung auf "Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA" nur zu, weil Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) das Votum mit einer Vertrauensfrage verband.

Seit mittlerweile neun Jahren beteiligt sich Deutschland gemäß UN-Sicherheitsratsresolution 1386 vom 20. Dezember 2001 mit mehr als 40 Nationen an dem Stabilisierungseinsatz in Afghanistan im Rahmen der internationalen Sicherheitsbeistandstruppe (Isaf). Deutschlands Sicherheit und Freiheit sollten am Hindukusch verteidigt werden, begründete der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) den Einsatz. Dabei verschwieg er, dass die Bundeswehr in ein Land aufbrach, in dem die Bevölkerungsmehrheit dem traditionellen Islam anhängt und die größte Ethnie, die Paschtunen, die Ideologie der Taliban teilt. Damit war die Bundeswehr als Teil der Isaf von Anfang an Partei in einem Bürgerkrieg.

Im Bundestag hatte nur Die Linke den Afghanistan-Einsatz stets als Krieg bezeichnet und sich entsprechend positioniert. Genauso wahr ist aber, dass sich keiner ihrer führenden Vertreter durch Proteste gegen die sowjetische Aggression in Afghanistan (1979 bis 1989) hervorgetan hatte. Dabei verwandelte sich das arme Land erst durch die Kriegsverbrechen der Sowjetunion in eine Hölle. Statt die reale Entwicklung am Hindukusch zur Kenntnis zu nehmen, war bei Rot-Grün genauso wie bei Schwarz-Rot immer nur von einem "Stabilisierungseinsatz" die Rede. Um Begriffe wie "bewaffneter Konflikt" oder "Krieg" machten sie einen großen Bogen.

Nachdem am Karfreitag 2010 die Zahl der gefallenen deutschen Soldaten auf insgesamt 43 gestiegen war und die negative öffentliche Meinung einem neuen Höhepunkt zustrebte, änderte schließlich die Vierte Gewalt ihre zurückhaltende Berichterstattung über den Afghanistan-Einsatz. Von 2001 bis Ende 2009 hatten die Printmedien vor allem Berichte über und aus Afghanistan veröffentlicht, die weitgehend mit der offiziellen Regierungspolitik übereinstimmten. Dies lag nicht zuletzt an der professionellen Öffentlichkeitsarbeit des Presse- und Informationsstabes des Verteidigungsministeriums. Hinzu kam, dass es die amerikanische Praxis des "embedded journalist" hierzulande nicht gibt. Bilder vom unmittelbaren Kriegsgeschehen bekamen die Bürger also kaum zu Gesicht. Auch fehlten lange unzensierte Kriegsreportagen wie das Buch von Dexter Filkins "Der ewige Krieg".

Inzwischen schieben sich Bundeswehr, Politik und Presse gegenseitig den schwarzen Peter zu, wenn es darum geht zu klären, wer für die verharmlosende Berichterstattung die Verantwortung trägt. Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass die gesamte Hauptstadtpresse brav die Spielregeln des Verteidigungsministeriums befolgte. Um von der eigenen Blamage abzulenken, beschuldigen nicht wenige Journalisten die Politik heute umso heftiger, einen ganzen "Krieg" vor der Presse versteckt zu haben.

Vor einem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wird bereits die Frage diskutiert, ob Deutschland bei ähnlichen Fällen wieder mitmachen sollte. 56 Prozent der vom Institut für Demoskopie Allensbach Befragten gaben an, es lasse sich nicht vermeiden, dass es solche Einsätze aufgrund der Mitgliedschaft Deutschlands in Nato und UNO auch in Zukunft geben werde. Tatsächlich förderte die im Auftrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Ende Mai 2010 veröffentlichte Umfrage die steigende Bereitschaft der Deutschen zutage, mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen als noch vor einem Jahrzehnt. Dessen ungeachtet waren 65 Prozent der Befragten dagegen, dass deutsche Soldaten auch in Zukunft Teil der Schutztruppe in Afghanistan sein sollten.

Auch im neuen strategischen Konzept der Nato wird die globale Tätigkeit der Allianz erörtert. Die Einsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung außerhalb des Bündnisgebietes werden "die vorrangigen und strukturbestimmten Faktoren sein", stellte Verteidigungsminister Guttenberg in seiner Grundsatzrede an der Führungsakademie der Bundeswehr am 26. Mai 2010 in Hamburg fest. Militärische Interventionen der Nato werden also weiterhin stattfinden mit dem Ziel, Demokratie, Wohlstand und Sicherheit in Krisen- und Kriegsgebieten, weit von Europa entfernt, zu schützen. Es ist übrigens kein Zufall, dass parallel zur Debatte über mögliche weitere Kriegseinsätze auch über die Wehrpflicht diskutiert wird. Denn ohne eine qualifizierte, professionelle Interventionsarmee kann die Bundeswehr die neuen Herausforderungen nicht meistern.

Neue Strategie

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die Streitkräfte zunehmend als eine Art Polizeitruppe präsentiert, die die Sicherheit verteidigen und die "Schurkenregime" bekämpfen sollte, meint die Militärhistorikerin Beatrice Heuser. Die "kleinen Kriege" oder die "humanitären Interventionen" - wie in Jugoslawien - bedeuteten neue Herausforderungen und verlangten nach einer neuen Strategie. Die Vorgeschichte, die wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Hintergründe der Konflikte erwiesen sich als entscheidender Schlüssel zum Verständnis der beteiligten Gesellschaften. Ausgerechnet in Afghanistan wurde diese Einsicht jedoch missachtet. Angesichts der Erfahrungen aus den letzten "kleinen Kriegen" fordert Beatrice Heuser eine prinzipiell neue Strategie: weg von der Unterwerfung des Gegners hin zu Schlichtung, Verhandlung und zur Entwicklung gemeinsamer Ziele. Der Westen sollte versuchen, seinen Gegner zu überzeugen, ihn zum Partner zu machen, wie es den USA im Irak gelungen sei. Denn ohne Überzeugung sei kein nachhaltiger "Sieg" möglich.

In Afghanistan hätte dies bedeutet, das Feld den Taliban zu überlassen und darauf zu hoffen, dass ein paar Jahrhunderte später auch die Gotteskrieger einer Frau vielleicht nicht mehr Nase und Ohren abschneiden, weil sie ihren gewalttätigen Ehemann verlassen will. Sicher ist hingegen, dass die Taliban Al-Qaida weiterhin in ihrem "Heiligen Krieg" unterstützen werden, um Terroristen für die Bekämpfung der Käfir, der Ungläubigen, auszubilden. Ein schneller Rückzug aus Afghanistan hätte also dazu geführt, das Land nicht nur wieder den Taliban auszuliefern, sondern auch eine neue Welle terroristischer Attacken gegen den Westen zu provozieren.

Die politisch Verantwortlichen müssen die Öffentlichkeit vorbereiten: Wollen wir zerfallende Staaten auch durch militärische Interventionen stabilisieren oder nicht? Wird der Bundestag die Bundeswehr in Einsätze schicken und mit den Verbündeten Kriege führen, auch wenn Resolutionen des UN-Sicherheitsrates - wie beim Kosovo-Krieges - ausbleiben? Tatsächlich führen Demokratien nicht weniger Kriege als autokratische Regime, wie der Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel herausfand. Allerdings sei die Stabilität der auf Gewalt gegründeten Demokratien zweifelhaft.

Sicher ist hingegen, dass Präsident Hamid Karsai sein Regime derzeit durch eine gegen Isaf gerichtete Politik stabilisieren will. Den westlichen Gesellschaften muss klar sein, dass sie am Hindukusch sind, um einen neuen Taliban-Staat zu verhindern. Deshalb kämpft die Bundeswehr in Afghanistan und deshalb dürfen die Partner aus 40 Ländern nicht versagen.

Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.