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Umstrittene Sperrklausel

EUROPA War die Europawahl 2009 verfassungswidrig? Das soll jetzt das Bundesverfassungsgericht klären

20.09.2010
2023-08-30T11:26:03.7200Z
4 Min

Wenn es um das Wahlrecht geht, ist Hans Herbert von Arnim meist nicht weit. So beklagte der Verfassungsrechtler bei der Bundestagswahl im vergangenen Jahr die "perversen Effekte der Überhangmandate". Jetzt sorgt von Arnim erneut für Aufsehen: Beim Bundesverfassungsgericht legte er Verfassungsbeschwerde gegen die Europawahl 2009 ein. 30 weitere Staatsrechtler und 500 Bürger hätten sich der Beschwerde angeschlossen, teilte von Arnim in einer Presseerklärung mit.

Von Arnim hält zwei Regelungen im deutschen Europawahlgesetz für verfassungswidrig: die Fünf-Prozent-Hürde und die starren Wahllisten. Sein Einspruch im Bundestag gegen die Wahl wurde kürzlich zurückgewiesen, darum wendet er sich nun an die Karlsruher Richter. Seine Argumente: Wegen der Sperrklausel seien bei der Europawahl rund 2,8 Millionen deutsche Wählerstimmen entwertet worden - insbesondere für kleinere Parteien ein Nachteil. Das ohnehin bestehende ungleiche Stimmgewicht der Bürger zulasten größerer Mitgliedstaaten werde durch die Fünf-Prozent-Hürde noch einmal verschärft, kritisiert er. Die deutschen Stimmen, die unter den Tisch gefallen sind, hätten Ländern wie Estland, Malta, Slowenien und Zypern zusammen ausgereicht, um insgesamt 24 Abgeordnete nach Brüssel zu schicken. Die Gerichte hätten die Sperrklausel selbst bei Kommunalwahlen 2008 überall gekippt, betont er, seitdem Bürgermeister und Landräte nicht mehr von den Kommunalparlamenten, sondern direkt gewählt werden.

Auch die starren Listen sieht von Arnim als problematisch an. Denn sie können vom deutschen Wähler - anders als etwa in Österreich - nicht verändert werden. Der kann nur Parteien ankreuzen, nicht aber einzelne Kandidaten. "Die Parteien entscheiden, wer Abgeordneter wird, und nicht die Bürger. Sie haben die Bürger entmachtet und den wichtigsten demokratischen Akt zu einer Wahl ohne Auswahl deformiert", klagt von Arnim. "Auf dem Wahlzettel stehen nur die ersten 10 Kandidaten", sagt er. "Allein die SPD hat aber zuletzt 23 Abgeordnete nach Brüssel geschickt." Ihm gehe es darum, das Wahlrecht zu stärken, schließlich sei das die "wichtigste Äußerungsform" der Bürger in der Demokratie, erklärt er.

Europa- und Wahlrechtsexperten im Bundestag halten den Vorstoß des Professors für unsinnig. "Zu beiden Problemen gibt es mehrere höchstrichterliche Entscheidungen, die die Verfassungsmäßigkeit bestätigt haben", sagt Jerzy Montag, rechtspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion und Mitglied im Europa-Ausschuss: "Ich sehe keinen Aspekt, warum das Gericht jetzt davon abweichen sollte." Montag ärgert sich: "Wer immer wieder darauf pocht, dass das Bundesverfassungsgericht alles entscheidet, entmündigt am Ende die Politik."

Von Arnim kennt natürlich die Rechtsprechung, glaubt aber, dass sich die Grundlagen in den vergangenen Jahren geändert haben. Er hofft deswegen auf eine neue Wertung der Richter. So beruft er sich auf das jüngste Urteil des Gerichts zum Lissabon-Vertrag. Daraus ergebe sich, dass die Fünf-Prozent-Klausel, wie sie bei Bundestagswahlen gelte, bei Europawahlen nicht zu rechtfertigen sei. Die Klausel bestehe bei Bundestagswahlen, weil das Parlament Entscheidungen treffe - etwa die Wahl der Regierung - das EU-Parlament sei zu solchen Entscheidungen aber nicht legitimiert.

Michael Stübgen, europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, findet es zwar nachvollziehbar, dass man die Sperrklausel ungerecht findet. "Allerdings gibt es gute Gründe für die Fünf-Prozent-Hürde. Sie verhindert effektiv eine Zersplitterung des Parlaments und sorgt damit für seine Funktionstüchtigkeit." Der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses im Bundestag, Thomas Strobl (CDU) hat den Einspruch von Arnims mit geprüft. Er betont: "Die derzeitigen Regelungen bewegen sich im Rahmen der dem Gesetzgeber eingeräumten Freiheit." Es bestehe aktuell keine Veranlassung, an der Verfassungsmäßigkeit der Regelungen zu zweifeln.

Klar ist, dass die Verfassungsrichter immer für Überraschungen gut sind. Sollten sie von Arnim zustimmen, müsste nach dessen Ansicht die Fünf-Prozent-Hürde wegfallen und das EU-Parlament neu zusammengesetzt werden. Acht Abgeordnete - je zwei von CDU, SPD und Grünen, je einer von CSU und FDP - müssten ihr Abgeordnetenmandat in Brüssel wieder hergeben, sagt er. Für sie würden acht Vertreter kleinerer Parteien nachrücken. Auch für die Wahllisten müsste eine gesetzliche Neuregelung gefunden werden. Axel Schäfer, europapolitischer Sprecher der SPD, ist der Ansicht, dass eine solche Entscheidung nicht Sache des Gerichts ist: "Die starren Listen sind grundsätzlich zulässig. Natürlich lassen sie sich variabel gestalten. Das kann aber nur vom Gesetzgeber entschieden werden."

Michael Link, europapolitischer Sprecher der FDP-Fraktion, sieht Wege, um die Identifikation der Wähler mit den Gewählten zu verstärken: So sollte es für Europaparlamentarier künftig Wahlkreise geben: "Verbesserungsvorschläge werden sowohl im europäischen Parlament als auch im Bundestag bereits intensiv diskutiert."

Während sich Abgeordnete ärgern, bekommt der streitbare Staatsrechtler von Kollegen - wenn auch zögerlich - Rückendeckung. "Aus Sicht der Parteien sind Sperrklausel und starre Listen natürlich willkommene Steuerungselemente", sagt R. Alexander Lorz, Rechtsprofessor an der Universität Düsseldorf. Er sieht in der Verfassungsbeschwerde eine "Herausforderung an die etablierte Interpretation der Wahlgesetze". Trotzdem glaubt er nicht, dass von Arnim vor Gericht einen Sieg davontragen wird. Franz Mayer, Verfassungsrechtler an der Universität Bielefeld und Vertreter der Bundesregierung im Lissabon-Verfahren, rechnet ebenfalls nicht mit einem Erfolg vor Gericht, findet aber die Fragen, die von Arnim aufwirft "spannend". Er meint, dass - unter der Prämisse, dass das Verfassungsgericht nicht instrumentalisiert wird - an sich niemand dagegen sein kann, wenn dieser damit Diskussionen anstoßen würde.